© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/24 / 05. Januar 2024

Gemeinschaft ist ein scheues Reh
Literatur: In ihrem Roman „Das Haus“ beleuchtet Monika Maron erneut gesellschaftliche Fragen anhand einer wohltuend lakonisch erzählten Sicht auf das Private
Regina Bärthel

In ihrem Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ (2018) beschrieb Monika Maron, wie ein Fremdkörper eine Gemeinschaft bis zur Eskalation reizen kann – hier eine Nachbarschaft, die durch das schrille Kreischen einer selbsternannten „Opernsängerin“ terrorisiert wird. Interessant dabei: Eben diese Reizung führt zunächst dazu, daß sich die Nachbarschaft zu einer Zweckgemeinschaft zusammenschließt. Eine Zweckgemeinschaft zur Gefahrenabwehr.

In ihrem neuen Roman „Das Haus“ erzählt Maron erneut vom Entstehen einer solchen Gemeinschaft: Unverhofft hat Katharina ein herrschaftliches Gutshaus im ländlichen Bossin geerbt – in Reichweite Berlins, aber auch weit genug davon entfernt. Das Haus samt Park biete perfekte Voraussetzungen für eine gehobene Wohngemeinschaft, so die hedonistische Sylvie, die sich offensichtlich gern an frühere WG-Erfahrungen erinnert. Und so finden sie zusammen: Die Buchhändlerin Mary wie auch Michael Jahnke haben beide ihre Ehemänner verloren, der Naturwissenschaftler Johannes Bertram, als einziger Nicht-Berliner aus Dresden nach Bossin gezogen, wurde von seiner weitaus jüngeren zweiten Ehefrau aus seinem Haus vertrieben. Auch die Erbin selbst, die Tierärztin Katharina, blickt auf keine gute Ehe zurück; nach deren Ende fühlte sie sich „wie von Ganzkörpergips befreit“.

Unter all diesen Alleinstehenden, die durch die Senioren-WG – alle Mitglieder sind um die 70 – nicht zuletzt der Einsamkeit im fortschreitenden Alter vorbeugen wollen, gibt es nur ein Ehepaar. Der Althistoriker Amadeus Müller ist aufgrund seiner Krankheit dem großstädtischen Getriebe entflohen; seine Ehefrau Gerlinde folgte ihm widerwillig, doch ergeben. Nun bevölkern dann und wann ihre zahlreichen Nachkommen den Park des Gutshauses wie auf einem impressionistischen Gemälde. Und in ihre Mitte wird Gerlinde später – obgleich ein durchaus schwieriger Charakter – zurückkehren.

Die Lebensentwürfe weisen im Alter Fehlstellen auf

Als letzte stößt auch Eva, die Ich-Erzählerin, zu der Runde, die sie mit großer Distanz und leisem Spott die „Alterskommune“ nennt. „Ich wollte in das Haus nicht einziehen“, lautet der erste Satz ihres Berichtes. Von Beginn an macht sie deutlich, daß eine solche Lebensform ihr nicht entspricht. Da sie aber ihre Berliner Wohnung verlassen mußte, sucht auch sie nun Unterschlupf auf dem Land. Natürlich nur als Provisorium, wie sie sich selbst gegenüber beteuert.

Es ist sicherlich keine Resterampe der Gesellschaft, die sich hier auf dem Land zusammengefunden hat. Alle Bewohner hatten ein interessantes, auch einträgliches Leben gemäß ihren Interessen und Lebensentwürfen. Doch nun, im Alter, weisen eben diese Lebensentwürfe Fehlstellen auf: Neben dem Verlust der Ehegatten, weit entfernt lebenden Nachkommen, Krankheit oder Wohnungsnot zeigt sich dies in einer gewissen Müdigkeit, im Wunsch nach Rückzug und Einfachheit. Nicht zuletzt die Hoffnung auf Gemeinschaft angesichts der eigenen Verzichtbarkeit führt die Gruppe im Gutshaus zusammen. 

So entsteht auch hier eine Zweckgemeinschaft, jedoch nicht zur Bekämpfung eines störenden Außenseiters, sondern vielmehr im Versuch, jenen Lebensentwürfen zu entfliehen, die im Alter zu Einsamkeit führen können. Denn die Senioren gehören bereits dem Zeitalter des Hyper-Individuums an, das der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten“ beschreibt: Anstelle einer Anpassung an das Normale, an eine Gemeinschaft mit fest umrissenen Vorstellungen von einer gemeinsamen Ethik sowie verbindlichen Werten, fokussiert sich der Einzelne auf das postromantische Ideal der Verwirklichung des Selbst, auf die Entfaltung individueller Besonderheiten. Diese Selbstverwirklichungsrevolution zieht allerdings eine Singularisierung aller Lebensbereiche mit sich und führt, so Reckwitz, zu Bindungsarmut im Privaten wie Gesellschaftlichen.

Doch Bindung ist eben das, was die Mitglieder der Alterskommune an ihrem Lebensabend suchen. Denn als Rentner simuliere man gesellschaftliche Teilhabe nur noch, werde aber verstanden als jemand, der den öffentlichen Haushalt belaste, schuld sei am Pflegenotstand und zu große Wohnungen blockiere, sinniert die Ich-Erzählerin Eva: „Was soll aus diesem Rest des Lebens werden, in dem man nicht mehr sein durfte, wer man bis dahin war.“

Noch am Abend ihres Einzugs ins Gutshaus – man schreibt das Jahr 2019 – melden die Nachrichten: „Notre-Dame brennt!“ Bestürzt verfolgt die Gruppe den verstörenden Brand, ist beeindruckt von den spontan niederknienden und betenden Passanten in Paris. Theorien und Befürchtungen über die Brandursache werden laut – Fahrlässigkeit, technischer Fehler oder Anschlag? Ebenso die Frage: Gibt es in Deutschland einen gleichwertigen Symbolort wie den Pariser Dom? (Das Brandenburger Tor ist es gewiß nicht, wie man inzwischen erkennen mußte.) Diese Szene verdeutlicht die Grundfrage des Romans: Was hält eine Gemeinschaft – im Kleinen wie im Großen – zusammen?

Einige Zeit später schlagen neue Flammen hoch: Angesichts der langanhaltenden Trockenheit brennt der Wald in unmittelbarer Nähe zum Gutshaus. Tagelang ringt die Feuerwehr unter Mithilfe zahlreicher Ortsansässiger mit dem Feuer. Bossin ist nicht gefährdet – solange sich der Wind nicht dreht. Doch halt: Der deutsche Wald, gehört er nicht spätestens seit der Romantik zu jenen Sehnsuchts- und Symbolorten der Deutschen? Wäre dies nicht der Moment, niederzuknien oder besser noch durch tatkräftige Unterstützung zu seiner Rettung, zur Sicherung der vom Feuer gefährdeten Dörfer oder zur Aufnahme einiger der aus ihnen evakuierten Bewohner zum Wohl der ländlichen Gemeinschaft beizutragen? Die Alterskommune jedoch bleibt, bis auf marginale Einwürfe zur „menschengemachten Klimakatastrophe“, tatenlos und kauft sich durch einen finanziellen Obolus frei. Eine Unterlassung, die sich später rächen wird.

Ohnehin ist das Bestreben, sich in die Dorfgemeinschaft zu integrieren, gering. Nur langsam kommt es zu Kontakten mit der Außenwelt: Katharina eröffnet eine tierärztliche Beratungspraxis, Mary einen Lesekreis für Kinder. Ob dabei das Wohl des Dorfes im Vordergrund steht oder doch eher die Präsentation der eigenen Kompetenzen – siehe Reckwitz – sei dahingestellt.

Scharmützel der Bewohner irritieren die Hausgemeinschaft

Doch auch die innere Integration der Wohngemeinschaft erleidet massive Rückschläge. Während einer Auseinandersetzung entfährt der Erbin Katharina der Satz: „Das ist mein Haus.“ Ein Satz, der einige der Bewohner – die übrigens nahezu mietfrei hier leben – düpiert. Immerhin wohne man hier unter dem Vorbehalt der Gleichberechtigung, nun sei eine Zweiklassengesellschaft entstanden, die jede kollektive Entscheidungsmöglichkeit ad absurdum führe. Und immerhin sei das Haus ja auch nur geerbt, Katharina also quasi geschenkt worden: „In so einem Haus müsse schließlich die Gleichheit aller Bewohner gelten.“ 

Es sind solcherart Scharmützel, die die Gemeinschaft immer mal wieder irritieren, doch nicht zum Bruch führen. Zu klar das Bewußtsein, daß sie mangels anderer Optionen alle aufeinander und vor allem von Katharinas Erbe abhängig sind. Die zunächst so distanzierte Eva erkennt aber auch die Wohltat des neuen Umfelds: „Mit jeder Woche in Bossin entrückte ich dem allgemeinen Palaver über die zunehmende Kriminalität, diesen oder jenen Extremismus, die verheerende Wirkung der sozialen Medien oder auch nur über ein empörendes Buch ein Stück weiter.“ Gemeinschaft kann eben auch in der Konzentration auf das Unmittelbare liegen.

Die wahre Gefahr wird letzten Endes schicksalhaft von außen kommen. Ob die Gemeinschaft sie gemeinsam übersteht, läßt Monika Maron jedoch offen: Die Fragen nach den Grundvoraussetzungen zum Gelingen einer Gemeinschaft sind schon im „Normalfall“ vielschichtig genug und geben dem Leser einiges zu überdenken. Anreize dazu enthält der Roman genug – dank seiner wie immer bei Maron klug beobachteten Figuren und vielschichtigen Dialoge. Das Reh, das Eva kurz nach ihrer Ankunft im Park des Gutshauses beobachten kann, läßt sich indes nie wieder blicken.

Monika Maron: Das Haus. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, gebunden, 238 Seiten, 25 Euro