© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/24 / 05. Januar 2024

Das Elend der Gegenwart vergessen
Jahr der Romantik: Wie Caspar David Friedrich in seinem 250. Geburtsjahr unsere Seele heiter stimmt
Eberhard Straub

Während in den meisten Sprachen die Umwelt, in der wir leben, Realität genannt wird, von festen und beständigen Sachen, den res, geprägt, sprechen wir Deutschen von der Wirklichkeit, in der Kräfte wirken, also Bewegung das vorherrschende Prinzip ist. Die Natur und der Mensch kennen keinen Stillstand, beide befinden sich im dauernden Werden, das nie zur Ruhe kommt.

Erstaunlicherweise wird ein sehr deutscher Maler wie Caspar David Friedrich, vor 250 Jahren in Greifswald geboren und 1840 in Dresden gestorben, als ein Meister der Ruhe und Stille gewürdigt, obwohl seine Bilder ununterbrochen auf die beunruhigende Macht der Zeit und der unbeständigen, alles verändernden Zeitlichkeit hinweisen. Er war ein denkender Künstler, vertraut mit den Überlegungen seiner Zeitgenossen zu Kunst und Natur und dem Künstler, der sinnfällig deutet, was er sieht, weil es ihm nicht auf das Sein der Dinge und der Natur ankommt, sondern auf deren Bedeutung, dem Gesetz von Stirb und Werde unterworfen, dem lebendigen Geist, der Mensch und Natur in gleicher Weise nötigt, sich im Wechsel zu erneuern und abgelebtes abzustreifen und hinter sich zu lassen.

Der denkende Maler muß der Natur, der Landschaft, die er gestaltet, eine Seele einhauchen, und das kann nur seine eigene sein. Die Natur verfügt über die unendliche Zeit und den grenzenlosen Raum, um sich auszudrücken und zu entfalten.  Der Künstler muß sich beschränken und dem Besonderen, das er schildert, einen allgemeinen Sinn verleihen. Dazu bedarf es der Phantasie, die Geist und Seele regsam erhält, sich einzufühlen in die immer schaffende Natur. Ein Bild kann nicht gefunden, es muß empfunden werden, woran Caspar David Friedrich immer wieder erinnerte in Übereinstimmung mit romantischen Vorstellungen, aber auch mit Goethes Ideen zum unerschöpflichen Individuum. Alles poetische Gestalten ist nur ein Ergebnis des eigenen, fortschreitenden Lebens mit seiner Aufnahmefähigkeit und der durch sie angeregter Produktivität. In diesem Sinne mahnte sein Freund, der Naturforscher Alexander von Humboldt, nicht bei den äußeren Erscheinungen zu verweilen, „die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt“.    

 Jeder Mensch ist dazu angehalten, der von Gott in ihm angelegten Spur zu folgen, um ein Werk der Gottheit zu werden, „das einer besonderen Gestalt und Bildung sich zu erfreuen hat“, worüber der Theologe und Schöngeist Friedrich Daniel Schleiermacher unterrichtete. Daran hielt sich Caspar David Friedrich mit der ihm eigenen Beharrlichkeit, denn nur im Tempel der Eigentümlichkeit vermag der Mensch Großes zu erschaffen, was voraussetzt, „immer mehr zu werden, was ich bin“, wie es des geschätzten Theologen Wille war. Das führte keineswegs zu einem entfesselten Subjektivismus, da der einzelne ja aufgefordert blieb, sich Gott anzunähern und das allzu Menschliche zu überwinden. Gerade die Natur gehört zu den Werken, in denen sich Gott mit seiner Schönheit und Wahrheit offenbart und die es gerade dem Künstler ermöglichen, alles durch die Sünde entzweite, Geist, Seele und Körper, in sich wieder zu vereinen und dem Schöpfergott ergeben, nun selbst zum Schöpfer zu werden, dessen Werke von der ewigen Wahrheit und Schönheit künden. 

Die zwei Männer, die über dem Meer den Aufgang des Mondes sinnend erleben, betrachten kein alltägliches Phänomen, sie werden ergriffen vom wirkenden Gott, der sich als Wirklichkeit zu erkennen gibt. Seine erste und alles Irdische bestimmende Tat war über dem Wasser schwebend der Befehl: Es werde Licht, und das Licht ging von ihm aus, der als ewiges Licht leuchtet und als Licht der Welt diese aus der Finsternis erlösen wollte. Beim Evangelisten Johannes heißt es, daß die im Finsteren Verharrenden das Licht und seine Gnaden nicht begriffen haben.

Die beiden Männer stehen zwar auf dunklem Boden und im Finsteren, aber sie erkennen das Licht oder sehnen sich nach ihm. Das Wasser ist der Quell des Lebens, doch auch ein Hinweis auf den Tod, denn die Sintflut verdunkelte das Licht und löschte fast das Leben aus. Auf dem Meer können Schiffe und Schiffer scheitern. Der einsame Schiffbrüchige, der sich an das rettende Holz klammert, wie der Christ an das Kreuzesholz, ist ein Sinnbild des Menschen, den nur Gott vor dem Untergang bewahrt. Der Mond gleicht dem Menschen, weil er kein selbständiger Lichtkörper ist, sondern nur mit dem Licht, das er empfängt, zu leuchten vermag. Der Mond braucht die Sonne, der Mensch die Sonne der Gerechtigkeit, eben Gott, der ihn in die Klarheit führt, in den Glanz seiner Wahrheit und Schönheit. 

Der Mond mit seinen wechselnden Erscheinungen verkörpert auch den Wandel, mal Wachstum, mal Abnahme von Kräften. In seiner unbeständigen Form und Angewiesenheit auf höhere Mächte ist er ein Sinnbild für die Metamorphosen der Gesellschaft in der Welt als Geschichte, zu der Aufgang und Untergang gehören.

Die beiden Männer, der Gegenwart entrückt, tragen einen altdeutschen Mantel und ein Barett, sie erinnern mitten in einer vom immer gleichen doch immer neuen und alles neu erscheinen machenden Licht an ein fernes, abgelebtes Deutschland, dem allerdings eine Wiedergeburt in anderer Gestalt, wie die Mondsichel sich zum Vollmond rundend, nicht verwehrt sein wird. Ihre dunkle Tracht und Einsamkeit, fern vom Lärm der aufgeregten Zeit, macht sie Humanisten und Mönchen ähnlich, die sich nachdenklich würdiger Muße hingeben, in der Natur den Musen nahe und fern dem geschäftigen Treiben der unbesonnenen Tatmenschen, die den Tag im Tag vertun. Vom griechischen Philosophenmantel stammen Kutten und Talare jener Einzelgänger ab, die sich der vita contemplativa widmen, um im Hier und Heute im Ewigen sich einzurichten, Paraklet, dem tröstenden Heiligen Geist ergeben. 

Die weltliche Anachorese, ein Leben in stiller Zurückgezogenheit, um sich selbst zu entdecken, beschäftigt mit Büchern, um die Welt, dieses große Buch verstehen zu können, galt vielen als Voraussetzung dafür, in der Einsamkeit – näher bei Gott – nicht den Täuschungen auf dem Narrenschiff der Welt zu erliegen, indem jeder, der sich nicht in acht nimmt, die Ruhe verliert und sich selbst zur Frage wird, ohne eine Antwort darauf zu finden. In ländlicher Stille, in der beseelten Landschaft ließ sich am besten das Elend der jeweiligen Gegenwart vergessen, um zur Heiterkeit der Seele zu gelangen, allein oder mit wenigen Gleichgestimmten. Davon redeten die heidnischen Römer Horaz oder Seneca, christliche Philosophen oder Humanisten und Dichter wie Petrarca in der Natur, deren Teil der Mensch ist, eine heilsame Ergänzung vermutend zu ihrer allzu sehr vom Geist bestimmten Lebensweise. Der Italiener Petrarca war 1336 der erste Bergsteiger, um selbstbewußt und energisch als Wanderer und Pilger sich Aussichten zu verschaffen, die sein Ich steigerten, weil er mit der Überwindung natürlicher Hindernisse aus dem verworrenen Dämmern zum göttlichen Licht aufstieg, das alle Nebel vertreibt und aus Dämmern hinüberleitet in Deutlichkeit und Helle. 

Der Dichter oder Maler in seinem Studio, in seinem eng umgrenzten Raum, flieht nicht aus dieser Welt, sondern diese kann, wenn sie nur mag, ihn wie Gott in seinen Werken erkennen, die er aus seiner Einsamkeit hinausschickt zu ihrem Nutzen und ihrer Freude, aber auch um einige Freunde und Gleichgestimmte zu einer Gemeinschaft zu vereinigen. Kunst ist gesellig, weil der größte Künstler, nämlich Gott, die vielen Vereinzelten mit den vielen anderen, von ihm unterschieden, vereinigen möchte. So hoffte der Künstler und Bildschöpfer Caspar David Friedrich im Tempel seiner Eigentümlichkeit viele um sich zu scharen, die nicht danach trachteten, wie alle zu sein und zu denken und zu leben, sondern in geistiger Gemeinschaft jeweils ganz eigentümlich, also unverwechselbar, auf andere zu wirken und mit ihnen zusammen die Wirklichkeit als eine Lebensmacht vor theoretischer Erstarrung in Abstraktionen bewahren wollten. 






Dr. phil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ und Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.

 www.eberhard-straub.de