Im Mai feiert die 1990 wiedervereinigte Bundesrepublik ihren 75. Geburtstag, deren höchster Volksvertretung, dem Bundestag, Wolfgang Schäuble, 51 Jahre angehört hat. Seit 1972 war der CDU-Politiker Chef des Bundeskanzleramts, Bundesinnenminister (zweimal), Bundesfinanzminister, CDU-Bundesvorsitzender, CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag, Präsident des Bundestages. Da darf man wohl von einem Ausnahmepolitiker sprechen.
Dessen war sich der am zweiten Weihnachtstag im Alter von 81 Jahren verstorbene Badener zweifellos bewußt. Der Schnelldenker hatte Kanzlerformat, wäre gern Nachfolger von Helmut Kohl geworden. Doch der Dauerkanzler machte ihn erst zum Kronprinzen, um ihn dann zu verhindern. „Helmut, wir werden die nächste Wahl mit dir nicht mehr gewinnen“, hatte der Jüngere dem Parteipatriarch in einem Vieraugengespräch zu bedenken gegeben. „Wolfgang, das glaube ich nicht“, gab dieser einsilbig zurück. Damit hatte sich die Angelegenheit erledigt: für Schäubles Ambitionen und für Kohls Kanzlerschaft, der bei der Wahl 1998 zum fünften Mal antrat und verlor.
Doch die beiden Antipoden blieben miteinander verbunden. Beide hatten hohe Spenden entgegengenommen, die nicht ordnungsgemäß verbucht worden waren. Die dem Bundestagspräsidenten vorgelegten Rechenschaftsberichte der CDU waren also fehlerhaft. Nach nur zwei Jahren mußte Schäuble als Partei- und Fraktionschef zurücktreten und seiner Generalsekretärin Angela Merkel weichen.
Fortan hatte Schäuble unter ihr zu dienen, die 2005 das von ihm angestrebte Amt übernommen hatte. 16 lange Jahre wie ihr anfänglicher Förderer Kohl. Merkel berief Schäuble in höchste Ministerämter, was überraschte. Er sei unbequem, aber loyal, versicherte der blockierte Kanzleraspirant seiner Kanzlerin. Was stimmte. Daß Schäuble sich für den besseren Kanzler hielt, darf unterstellt werden. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/16 wurde Merkels wichtigster Mann von Parteifreunden bedrängt, der Kanzlerin den Rücktritt nahezulegen. „Schäuble, übernehmen Sie“. Doch zum Königsmörder taugte er nicht. Vielleicht war es Dankbarkeit, da sie seinen Rücktritt 2010 abgelehnt hatte, als er ernsthaft erkrankt war. Eine Folge seiner Querschnittslähmung, die ihn 1990 nach dem Attentat eines Geisteskranken an den Rollstuhl fesselte.
Merkel hielt auch in der Griechenland-Krise an dem oft störrischen Politik-Fuchs fest. Im Gegensatz zur Kanzlerin plädierte ihr Finanzminister für einen zeitweisen Ausstieg der Griechen aus der Währungsunion. Schäuble kokettierte mit seinem Rücktritt, blieb aber im Amt. Die Droge Politik hat ihn nie losgelassen. Die Flüchtlingskrise verglich er mit einer Lawine. Diese könne „man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer ein bißchen Schnee in Bewegung setzt“. Merkel war gemeint.
Den Eintrag ins Geschichtsbuch hatte sich Schäuble lange zuvor gesichert. Sein Meisterstück war 1990 der deutsch-deutsche Einigungsvertrag, der das Ende der DDR besiegelte. Dank seines hohen Sachverstandes und taktischen Geschicks gelang es ihm, die komplizierten Verhandlungen geräuschlos und erfolgreich zu führen. Drei Jahre zuvor hatte er noch den Besuch des DDR-Staatschefs Erich Honecker in Bonn vorbereitet.
Der Ehrentitel des „Architekten der deutschen Einheit“ war ihm sicher, wohl auch durch die Entscheidung des Bundestags, den Regierungssitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. Es war eine Totschlagsrede, da der Mann aus dem deutschen Südwesten insinuierte, die Bonn-Befürworter seien im Grunde verkappte Einheitsgegner. Am Ende der Karriere hielt seine CDU für ihre Allzweckwaffe das Amt des Bundestagspräsidenten bereit. „Ich will Politik gestalten, nicht ansagen“, hatte einst Alfred Dregger den „Parteifreunden“ entgegengehalten, die ihn vom Chefsessel der Fraktion wegloben wollten. Der wortgewaltige Schäuble fügte sich, doch wirkte er während der Sitzungsleitung oft mürrisch und unlustig, manchmal spitzbübisch. Es war immerhin das protokollarisch zweithöchste Staatsamt, das er aber 2021 der SPD überlassen mußte. Der intellektuelle Vordenker hatte den unbeholfenen Parteisoldaten Armin Laschet gegen den populäreren CSU-Chef Markus Söder als Unionskanzlerkandidaten mit durchgesetzt. Mit der Folge, daß die SPD als hauchdünn stärkste Partei Anspruch auf das Amt hatte.
Souverän blieb er auch als Parlamentspräsident. Bald nach dem Einzug der AfD 2017 in den Bundestag – die allgemeine Aufregung war groß – bat er Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann zu einem Gespräch in sein Amtszimmer. „Er war wohl neugierig, es war eine interessante Begegnung“, resümierte der gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.