Die Zahlen, die das Institut für Demoskopie in Allensbach im „Freiheitsindex 2023“ vorgelegt hat, sprechen eine klare Sprache. Nur noch 40 Prozent der Deutschen sind der Auffassung, daß sie ihre Meinung frei sagen können. 44 Prozent hingegen meinen, man müsse vorsichtig sein. Und gerade mal 33 Prozent trauen sich, außerhalb ihrer vier Wände so zu reden, wie ihnen der gesunde Menschenverstand das gebietet. Es ist das schlechteste Stimmungsbild seit 70 Jahren, 1990 zeigten sich immerhin noch 78 Prozent der Befragten davon überzeugt, daß in Deutschland die freie Meinungsäußerung ohne Risiko möglich sei.
Im Index ist von der „Erosion der subjektiven Meinungsfreiheit“ die Rede, doch handelt es sich um einen objektiven Befund. Nehmen wir zwei weitere miteinander korrelierende Zahlen. Während bei den Anhängern fast aller Parteien von der Linken bis zur AfD in unterschiedlichem Maße die Skeptiker überwiegen, fühlen sich sage und schreibe 75 Prozent der Grünen-Anhänger in ihrer Meinungsäußerung frei. Gleichzeitig geben mehr als 70 Prozent der Befragten an, ihre Informationen vorzugsweise aus den öffentlich-rechtlichen Medien zu beziehen.
Das heißt, trotz der Vielzahl sozialer Netzwerke und neuer Medien und entgegen sinkender Einschaltquoten behauptet der ÖRR sich in der individualisierten und atomisierten Gesellschaft als das wichtigste kommunikative Band. Seine finanzielle und logistische Ausstattung verschafft ihm Möglichkeiten, die konkurrenzlos sind. Es ist verständlich, daß der Normalbürger mit seinem begrenzten Zeitbudget bevorzugt auf die Abendnachrichten von ARD und ZDF zurückgreift, um sich über das Geschehen im In- und Ausland zu informieren. Die Auswahl und Präsentation der Informationen unterliegen aber einem „Framing“, das heißt, es wird eine knallharte politisch-ideologische Semantik vermittelt, die sich auf die Dauer in die Hirne einpflanzt und normierend wirkt. Flankiert wird der ÖRR von den Leitmedien im Printbereich. Die propagierten Normen entsprechen weitgehend der grünen Agenda, so daß grüne Parteigänger sich pudelwohl, andere dagegen sich eingeschüchtert, gedemütigt, bevormundet, provoziert fühlen.
Die von der legendären Allensbach-Gründerin Elisabeth Noelle-Neumann erforschte und beschriebene Mechanik der „Schweigespirale“ ist ungebrochen. Sie besagt, daß die Menschen die soziale Isolation fürchten. Über ihre „soziale Haut“ registrieren sie genau, welche Meinungen und Verhaltensweisen auf Zustimmung oder auf Ablehnung stoßen und richten ihr Verhalten danach aus. Wer eine andere Meinung vertritt als die der tatsächlichen oder vorgeblichen Mehrheit, zieht sich ins Schweigen zurück, um nicht ins Abseits zu geraten, was das Übergewicht des anderen Meinungslagers verstärkt. Entscheidend sind die großen Medien. Hat eine meinungsstarke Minderheit sie in der Hand, steigt sie zur öffentlichen Hegemonialmacht auf und bestimmt die Grenzen des Sagbaren. Der Artikel 5 des Grundgesetzes, der „das Recht (garantiert), seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“, bleibt in Stein gemeißelt, doch er wird elegant außer Kraft gesetzt.
Noelle-Neumanns luzide Theorie ist seit Jahrzehnten bekannt. Jetzt endlich beginnt einer Mehrheit zu dämmern, daß sie selber betroffen ist. Die Gründe dafür sind quantitativer und qualitativer Natur. Zum einen waren um 1990 die Tabuthemen noch überschaubar: Sie betrafen die NS-Vergangenheit, Asylanten sowie die Frauen. Heute werden fast im Monatsrhythmus immer neue Tabuzonen abgesteckt: Klimareligion, Genderismus, Diversität, Pandemie-Restriktionen samt Impfzwang, Energiepolitik, Ukrainekrieg, Massenmigration, Islam und so weiter.
Zweitens bleibt es längst nicht mehr bei sozialen Normierungen und zivilgesellschaftlichen Sanktionierungen. Die politisch-ideologische Semantik wird in Gesetze gegossen und in rechtlichen Zwang überführt. Öffentlicher Widerspruch kann rasch zu polizeilichen Maßnahmen, zu Hausdurchsuchungen, zur Beschlagnahmung von Datenträgern und zu Gerichtsverfahren führen. Haßrede, Volksverhetzung, verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates – die per se unscharfen Meinungsdelikte werden immer flexibler interpretiert.
Das Haupttabu ist die wilde Masseneinwanderung. Es wird suggeriert, daß die demokratische und verfassungskonforme Reaktion darin bestehe, sie als alternativlos zu akzeptieren und die entstehenden Belastungen durch eine euphorische „Willkommenskultur“ in „Bereicherungen“ zu verwandeln. Was die Bürger hingegen erleben, ist die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die Sorge um körperliche Unversehrtheit, die eigene Verarmung, die Dysfunktionalität der Institutionen, der Verwaltung, der Infrastruktur. Laut Allensbach setzen nur noch 35 Prozent der Deutschen Vertrauen in den Staat. In den Händen eines vom Demos abgelösten politisch-medialen Komplexes wird er als feindliche Macht empfunden, vor der man sich hüten muß.
Wenn der Staat „den innerlichen Glauben ins Private abdrängt“, heißt es im „Leviathan“ Carl Schmitts, dann wächst „die Gegenkraft des Schweigens und der Stille“. Die öffentliche Macht kann Gehorsam erzwingen, aber „als eine nur öffentliche und äußerliche Macht ist sie hohl und von innen her bereits entseelt“. Eine Zeitlang erschien das World Wide Web als der Raum, in dem die stille Verweigerung eine Stimme hervorbringt. Inzwischen wird auch er immer weiter eingehegt.
Und falls die Künstliche Intelligenz künftig in die Lage kommt, jegliche Kommunikation in die politisch-korrekte Matrix zu zwingen, hätten wir den totalen Orwell, und alle Auswege aus dem Gefängnis der politisch korrekten Medien wären versperrt. Was heute noch antrainierte, durch Realitätsschocks reversible Reflexe sind, würde den Insassen zur primären Natur, so daß sie dauerhaft außerstande wären, Propaganda und Realität zu unterscheiden. Deshalb ist es so wichtig, daß aus der Gegenkraft des Schweigens laute Stimmen politischen Widerstands erwachsen.