© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/23 - 01/24 / 22. Dezember 2023

Linksradikale an der Macht
Geistige Brandstiftung aus marxistischen Zirkeln des Pariser Quartier Latin: Pol Pots Schreckensherrschaft der Roten Khmer und ihr Massenmord am eigenen Volk
Paul M. Seidel

Geld war abgeschafft. Gegessen wurde in gemeinschaftlichen Speisehäusern. Die Einheitskleidung war schwarz, Ehen wurden vom Staat arrangiert, private Autos gab es nicht. Religion war verboten. Die Grenzen waren abgeriegelt, Ausländer mußten das Land verlassen. Die Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, die von Mitte 1975 bis Anfang 1979 dauerte, gilt als der bisher radikalste Versuch, eine kommunistisch-egalitäre Gesellschaftsutopie in die Tat umzusetzen. Und als einer der brutalsten Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Denn nach Schätzungen starben dabei zwischen 1,6 und 2,2 Millionen Menschen – durch Hunger, Zwangsarbeit, Krankheit oder Hinrichtung. Das entspricht einem Fünftel bis einem Viertel der damaligen Bevölkerung des Landes. 

Aufbau der Gesellschaft sollte nur mit „neuen Menschen“ gelingen

Wie konnte das passieren? Wer sich mit dieser Frage beschäftigt, stellt fest, daß die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, zumindest im deutschsprachigen Raum nicht sehr ausgeprägt zu sein scheint. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Buch „Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten“ von Daniel Bultmann (Paderborn 2017). Liegt es daran, daß viele Linksliberale hierzulande seinerzeit das kommunistische Experiment im „Demokratischen Kampuchea“ (wie die Roten Khmer das Land nannten) mit Wohlwollen und Sympathie betrachteten? Schließlich ging es um die Abschaffung des verhaßten Kapitalismus. Zeugenaussagen von Flüchtlingen wurden lange Zeit nicht ernst genommen, Berichte in konservativen Medien als Greuelpropaganda abgetan. Hans-Gerhart Schmierer, ehemaliger Sekretär des Kommunistischen Bunds Westdeutschland (KBW) und Freund von Joschka Fischer, der als Bundesaußenminister seinen alten Genossen 1999 in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes beorderte, sandte sogar noch 1980 nach Bekanntwerden der Massenmorde eine ergebene Grußadresse an seinen kommunistischen Genossen Pol Pot, in der er dessen „entscheidenden Beitrag für die Sache der internationalen Arbeiterklasse und der Völker der Welt“ (Kommunistische Volkszeitung, Nr. 17/1980) pries. Vier Delegierte der Schwedisch-Kambodschanischen Freundschaftsgesellschaft, die zuvor im August 1978 auf Einladung der Machthaber Kampuchea besucht hatten, berichteten von fleißigen Menschen und einer glücklichen Gesellschaft. Peter Fröberg Idling, ein junger schwedischer Autor, ist in seinem lesenswerten Buch „Pol Pots Lächeln“ den Spuren der Reisenden gefolgt. Der welterfahrene Peter Scholl-Latour nannte die Roten Khmer dagegen seinerzeit „blutrünstige, wildgewordene Zombiehorden“. War ihre Herrschaft also ein archaischer Rückfall in die Steinzeit?

Dagegen spricht, daß die große Transformation sorgfältig durchdacht und akribisch geplant war. Chefdiktator Pol Pot und seine engsten Kampfgefährten wie Außenminister Ieng Sary und Staatschef Khieu Samphan waren Linksintellektuelle, die sich Anfang der 1950er Jahre beim Studium in Paris kennengelernt und politisch radikalisiert hatten. Sie träumten von einem idealen Bauernstaat nach maoistischem Vorbild, entstammten aber fast alle der Oberschicht Kambodschas. Pol Pot, der eigentlich Saloth Sar hieß (und sich später „Bruder Nummer eins“ nannte), wuchs in einer Familie wohlhabender Landbesitzer mit Verbindungen zum königlichen Hof auf und besuchte die renommierte Eliteschule Lycée Sisowath in Phnom Penh, bevor er mit einem Stipendium nach Paris ging. Dort schloß er sich einem der marxistischen Lesezirkel an, die im Studentenviertel Quartier Latin im Umfeld der Sorbonne wie Pilze aus dem Boden schossen, und wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Sein Studium der Radioelektronik brach er ab. Khieu Samphan machte jedoch seinen Doktor mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Studie über die Ursachen der Armut in Kambodscha. 

Zurück in der Heimat arbeitete Pol Pot als Lehrer und trat der im Untergrund agierenden Kommunistischen Partei bei, wo die Leute vom „Pariser Zirkel“ schnell zu Einfluß kamen. 1963 wurde er zum Parteichef gewählt. Bis zur erfolgreichen Machtergreifung sollte freilich noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen. Erst die Verwerfungen durch den Vietnamkrieg, die Absetzung des beim Volk beliebten Prinzen Norodom Sihanouk durch den pro-amerikanischen General Lon Nol und die US-amerikanischen Bombardements bescherten den Kommunisten stärkeren Zulauf. Aus seinem Pekinger Exil rief der populäre Sihanouk seine Landsleute auf, den Rebellen beizutreten. Ihre kommunistischen Transformationspläne hielten die Parteistrategen streng geheim, stattdessen sprachen sie vom „Kampf gegen Fremdherrschaft und Imperialismus“. Nach außen traten sie als „die Organisation“, als Angkar, auf. Nach dem Abzug der Amerikaner gerieten Lon Nols Regierungstruppen schnell in die Defensive. Ende 1973 kontrollierten die Roten Khmer schon den größten Teil des Landes. Es fehlten nur noch die Ballungszentren. 

Am 17. April 1975, einem Donnerstag, war es soweit. Die Guerilla-Truppen in ihren grünen und schwarzen Uniformen mit den rot-weißen Tüchern, darunter viele Minderjährige, marschierten in Phnom Penh ein. „Ich persönlich habe niemals zuvor eine so schöne Szene erlebt. Ich fühlte mich glücklich und erleichtert und angesichts dessen, was ich sah, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten“, schrieb ein schwedischer Korrespondent ergriffen. Auch viele Einwohner der Stadt jubelten den Roten Khmer zu, sie hofften auf ein schnelles Ende des Bürgerkriegs. Sie ahnten nicht, was ihnen bevorstand. 

Was folgte, übertraf die schlimmsten Erwartungen. Schon wenige Stunden später wurden die Bewohner der Hauptstadt per Lautsprecher gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen und nur mit dem Allernötigsten den Marsch aufs Land anzutreten. Alte und Kranke, die den Strapazen der Vertreibung nicht gewachsen waren, starben. In der Stadt blieben nur Soldaten und Parteifunktionäre zurück, Schulen und Universitäten wurden geschlossen. Die Zentralbank wurde gesprengt, das wertlos gewordene Geld flatterte auf den leeren Straßen herum. Handel und Märkte wurden verboten. Die Idee war, eine völlig neue Gesellschaft zu schaffen, eine streng planwirtschaftlich organisierte Ordnung, in der es kein Privateigentum mehr gab und die aus der Weltwirtschaft herausgelöst war. Im Sommer 1976 stellte Angkar einen detaillierten Vierjahresplan auf, der das Leben der Kambodschaner regeln sollte. Festgelegt wurden die Essensrationen für die kommenden Jahre und die Struktur der „Dörfer des Volkes“, auch Schulen und Krankenhäuser waren geplant. Privathaushalten wurde die Essenszubereitung verboten und sie dazu verpflichtet, ihre Mahlzeiten in Gemeinschaftskantinen einzunehmen. Fahrräder, Uhren und Schreibblöcke gab es nur noch für Parteifunktionäre. Die Basis ihrer Revolution sahen die Roten Khmer in der Bauernschaft, den Schlüssel zum Erfolg in der drastischen Steigerung der Reisproduktion, für die Normen und exakte Abläufe entwickelt wurden. Das Bewässerungsnetz sollte mit gigantischen Dammbauprojekten vervielfacht werden. 

Jedes individualistische Bewußtsein galt es auszutrocknen

Die Parteistrategen wußten, daß der Aufbau ihrer utopischen Gesellschaft nur mit „neuen Menschen“ gelingen würde. Deshalb legten sie großen Wert auf die psychische Transformation der Untertanen, auf Umerziehung und „Social Engineering“. Um das individualistische Bewußtsein auszutrocknen, versuchte man, die Sprache umzukrempeln. Etwa indem befohlen wurde, das Wort „ich“ durch das Wort „wir“ zu ersetzen. „Die Roten Khmer unterwarfen alles und jeden ihrer modernistischen und geradezu bürokratisch operierenden, radikal egalitären Ordnungsphantasie“, schreibt Daniel Bultmann. 

Die Transformation ging gründlich schief. Wie überall auf der Welt scheiterte auch im „Demokratischen Kampuchea“ die sozialistische Planwirtschaft krachend. Die maßlos überhöhten Reisnormen konnten auch mit brutaler Zwangsarbeit nicht erfüllt werden. Mißwirtschaft führte zu Hungersnöten. Aus Angst vor Repressalien wurden falsche Zahlen an die Obrigkeit gemeldet. Vermeintliche Saboteure, aber auch Abweichler und Verdächtige aus der Kommunistischen Partei wurden verhaftet und verschwanden in einem der Gefängnisse, mit denen das ganze Land überzogen war. Kontaktschuld zu politisch Verfemten war einer der häufigsten Gründe, um in die Todesmühlen der Roten Khmer zu geraten. Die bekannteste war das berüchtigte Zentralgefängnis der Roten Khmer, Tuol Sleng, eine ehemalige Schule mit dem Decknamen S-21, in dem unter dem Kommando von Kaing Guek Eav, genannt Duch, einem ehemaligen Lehrer, Tausende gefoltert und ermordet wurden. Mit bürokratischem Eifer wurden die schriftlichen Geständnisse der Opfer, darunter auch vieler „abtrünniger“ Parteikader, dokumentiert, um wie Jahrzehnte zuvor während der „Säuberungen“ in Stalins Großem Terror, „konterrevolutionäre Verschwörungen“ nachzuweisen. Der oscargekrönte britische Spielfilm „The Killing Fields“ (1984) hat die brutalen Geschehnisse auch im Westen bekanntwerden lassen. 

Vietnamesische Invasionstruppen machten dem Spuk Anfang 1979 ein Ende. Nach ihrem Einmarsch zogen sich die Reste der Roten Khmer in den Dschungel im nordöstlichen Grenzgebiet zu Thailand zurück. Von dort führten sie einen zähen Guerillakrieg gegen die von den Vietnamesen kontrollierte neue Regierung in Phnom Penh. Von den Vereinten Nationen wurden sie noch mehrere Jahre als legitime Vertreter Kambodschas anerkannt. Viele dienten sich erfolgreich der neuen Regierung und ihrem Militär an. Die Führungsriege der Roten Khmer mußte sich viele Jahre später vor einem Tribunal zur Aufklärung der kommunistischen Verbrechen verantworten. Gefängniskommandant und Folterchef Duch wurde 2010 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und starb 2020. Ex-Außenminister Ieng Sary, „Bruder Nummer drei“, starb 2013 – noch vor Abschluß seines Prozesses. Nuon Chea, „Bruder Nummer zwei“ und Pol Pots rechte Hand, wurde 2014 ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt und starb 2019 mit 93 Jahren. Ex-Staatschef Khieu Samphan scheiterte im vorigen Jahr mit der Berufung gegen seine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Chefdiktator Pol Pot war schon am 15. April 1998 unter ungeklärten Umständen im Dschungel an der thailändischen Grenze bei Anlong Veng zu Tode gekommen, nachdem er sich mit einigen seiner eigenen Genossen überworfen hatte.