© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/23 - 01/24 / 22. Dezember 2023

Blick in die Medien
Gonzo im Selbstversuch
Boris T. Kaiser

Anfang der Siebzigerjahre erfand der Schriftsteller Hunter S. Thompson eine neue Gattung des Journalismus. „Gonzo“ nannte das Enfant terrible der US-amerikanischen Literatur seine Reportagen, in denen er sich selbst zum Teil seiner Geschichten machte und seine subjektiven Ansichten und Eindrücke über die für Journalisten eigentlich obligatorische Objektivität des distanzierten Beobachters stellte. Entscheidend für den von Thompson geschaffenen Stil, den er selbst als „professionellen Amoklauf“ bezeichnete, war, daß der Reporter nicht einfach nur über etwas schreibt, sondern das Beschriebene am eigenen Leib und mit Haut und Haaren erlebt.

„Man kann natürlich einfach immer nur über alles reden. Ich probiere Dinge aber lieber direkt selbst aus.“

Heute, so könnte man meinen, ist diese Art der Berichterstattung längst journalistischer Standard. Daß der alte Gonzo-Journalismus dem neuen Haltungsjournalismus dennoch haushoch überlegen ist, zeigt der junge Youtuber Felix Michels alias „Tomatolix“, der auf seinem Kanal mit dem trendigen Format „Selbstexperiment“ genau das macht, was Thompsons direkte Erlebnisberichte einst ausmachte. Er schlüpft, wie er selbst schreibt, „in die Rolle des Versuchskaninchens“, um herauszufinden: „Was passiert, wenn man eine Woche lang keinen Zucker ißt“, wie sich Drogen auf den Körper auswirken oder er geht der Frage nach, ob Hypnose wirklich funktioniert. Ganz gemäß seinem persönlichen Motto: „Man kann natürlich einfach immer nur über alles reden. Ich probiere Dinge aber lieber direkt selbst aus.“ Dabei geht Tomatolix auch schon mal dorthin, wo es richtig wehtut – oder zumindest richtig wehtun könnte. Wenn er zum Beispiel als Zugchef die Fahrkarten in der Deutschen Bahn kontrolliert, den Türsteher auf der Reeperbahn macht oder gemeinsam mit dem Mönchen­gladbacher Ordnungsamt eine „Prostitutionsschutzkontrolle“ durchführt.

Natürlich gibt es solche Formate bereits zuhauf, im linearen TV hat sich das Genre seit langem etabliert. Anders als seine dortigen Kollegen kommt der Youtuber mit seinem Tomatolix-Experiment allerdings angenehm unaufgeregt daher. Er verzichtet auf reißerische Video-Titel und übertrieben sensationalisierende Vorschauclips – und beweist damit, daß das wahre Leben noch immer aufregend genug für so manche spannende Reportage ist.