© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/23 - 01/24 / 22. Dezember 2023

Die große Lebenslüge pulverisiert
Sowjetkommunismus: Vor fünzig Jahren erschien Alexander Solschenizyns Hauptwerk „Der Archipel Gulag“
Thomas Schäfer

Die Verbannung in unwirtliche Regionen in Kombination mit härtester Zwangsarbeit war ein zentraler Teil der zaristischen Strafjustiz, und die Bolschewiki knüpften bereits im August 1918 an diese unrühmliche Tradition an. Kurz nachdem Lenin befohlen hatte, „Klassenfeinde“ in „Konzentrationslager“ zu stecken, begann die Geheimpolizei Tscheka mit der Etablierung eines Systems von Straflagern, die schließlich der Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien, auf russisch Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij oder kurz Gulag, unterstellt wurden. Diese Lager, in denen bis zu 32 Millionen Menschen dahinvegetierten und oftmals auch starben, offenbarten die wahre Natur des sozialistischen Systems in der Sowjetunion. Daher resultierte dessen Kollaps unter anderem aus den Berichten über die untragbaren Zustände innerhalb des sogenannten „Archipels Gulag“. Verantwortlich für die Enthüllungen war dabei im wesentlichen eine einzige Person, nämlich Alexander Solschenizyn.

Der 1918 geborene Kosakensohn diente im „Großen Vaterländischen Krieg“ als Artillerieoffizier und geriet im Februar 1945 in die Mühlen der UdSSR-Justiz, weil er in privaten Briefen Kritik an Stalin geäußert hatte. Das trug ihm acht Jahre Lagerhaft und die „ewige Verbannung“ ein. Deshalb mußte Solschenizyn nach seiner Entlassung im Jahre 1953 als Dorfschullehrer in der kasachischen Steppe arbeiten. 1957 wurde er jedoch rehabilitiert und besaß dadurch die Möglichkeit, die Erfahrungen der Lagerzeit schriftstellerisch zu verarbeiten. So entstanden die Romane „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ über den Alltag eines Lagerhäftlings, erschienen während der sogenannten Tauwetterperiode und mit der Zustimmung von Nikita Chruschtschow in der Literaturzeitschrift Novy Mir, sowie „Der erste Kreis der Hölle“. Allerdings war Solschenizyn vor dem Erscheinen des zweiten Buches im Jahre 1968 erneut in Ungnade gefallen, weswegen er dieses im Ausland veröffentlichte.

Der Geheimdienst KGB versuchte ihn zu ermorden 

Der sowjetische Geheimdienst KGB beobachtete den Autor bereits seit September 1965 und veranlaßte 1969 dessen Hinauswurf aus dem Schriftstellerverband der UdSSR. Ein Jahr später erhielt Solschenizyn den Literaturnobelpreis „für die ethische Kraft, mit der er die unveräußerliche Tradition der russischen Literatur weitergeführt hat“. Persönlich entgegennehmen konnte er die Auszeichnung damals jedoch nicht, da er befürchtete, bei einer Reise zur Preisverleihung nach Stockholm nicht mehr in die Sowjetunion zurückkehren zu dürfen.

Bald darauf versuchte der KGB, den Künstler mittels des Pflanzengiftes Rizin zu ermorden. Der mißlungene Anschlag resultierte nicht zuletzt aus dem Wissen, daß Solschenizyn an einem weiteren Werk über das sowjetische Lagersystem schrieb, welches noch weitaus kritischer als die ersten Bücher ausfallen sollte. Die Arbeit daran hatte er schon im April 1958 aufgenommen. Dabei ging sein Bestreben zwischenzeitlich dahin, mit Warlam Schalamow zu kooperieren, dessen drei maschinengeschriebene Bände „Erzählungen aus Kolyma“ in den 1960er Jahren im sowjetischen Untergrund zirkulierten und Schalamows bittere Erfahrungen aus insgesamt 17 Jahren Lagerhaft wiedergaben. Allerdings war der bereits über 60 Jahre alte Ex-Häftling aus gesundheitlichen Gründen außerstande, mit Solschenizyn zusammenzuarbeiten.

Im August 1973 gelangte der KGB dann in den Besitz des Manuskriptes des ersten Teils von Solschenizyns neuem Buch. Als „Lieferantin“ fungierte eine enge Bekannte des Schriftstellers, welche später angesichts der Folgen ihres Handelns Suizid beging. Solschenizyn trat nach dem Verrat die Flucht nach vorn an und gab dem russischen Emigrantenverlag YMCA-Press mit Sitz in Paris, der über eine Kopie seines Werkes verfügte, grünes Licht für die Veröffentlichung. Daraufhin erschien der erste Band von „Archipel Gulag“ am 28. Dezember 1973 in russischer Sprache in Frankreich und wenig später auch als Übersetzung in zahlreichen weiteren westlichen Ländern.

Das Buch enthielt die Teile I und II von Solschenizyns Opus über das System der sowjetischen Straflager mit den Titeln „Die Gefängnisindustrie“ und „Ewige Bewegung“. In diesen beschrieb der Autor den Ausbau des „Archipels Gulag“ seit der bolschewistischen Revolution und dessen „Besiedlung“ durch immer neue Häftlingsströme zwischen 1917 und der Gegenwart. 

1974 und 1976 reichte Solschenizyn noch die Bände zwei und drei mit den Teilen III bis VII nach. Im Teil III „Arbeit und Ausrottung“ schilderte er die Lagerwelt und den typischen Weg der Insassen von der Einlieferung bis zum Tod. Teil IV trug den Titel „Seele und Stacheldraht“. Darin ging es um die psychischen Folgen der Haft sowie auch die mentalen Auswirkungen des Lagersystems auf den in „Freiheit“ lebenden Teil der UdSSR-Bevölkerung. In den Teilen V „Die Katorga kommt wieder“ und VI „In der Verbannung“ widmete sich Solschenizyn dann vor allem dem Vergleich mit den Zuständen zur Zarenzeit. Den Abschluß bildete Teil VII „Nach Stalin“, der die Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach dem Tod des Diktators in den Mittelpunkt stellte. Alles in allem umfaßte der „Archipel Gulag“ am Ende 1.800 Seiten. In der Widmung heißt es: „All jenen gewidmet, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen. Sie mögen mir verzeihen, daß ich nicht alles gesehen, nicht an alles mich erinnert, nicht alles erraten habe.“

Warner vor dem verderblichen Einfluß des Westens

In Reaktion auf das Erscheinen des ersten Bandes vor nunmehr fünfzig Jahren wurde Solschenizyn am 13. Februar 1974 verhaftet und wegen „Landesverrates“ angeklagt. Dem folgte bereits einen Tag später die Ausweisung aus der Sowjetunion. Anschließend lebte der Schriftsteller in Deutschland und der Schweiz, bevor er 1976 mit seiner Familie in die USA übersiedelte. In die Heimat kehrte Solschenizyn erst im Mai 1994 zurück, nachdem man ihn bereits 1990 formell rehabilitiert hatte. Im selben Jahr war der „Archipel Gulag“ auch erstmals in der UdSSR erschienen. Späterhin mutierte Solschenizyn dann von einer Ikone des Widerstands gegen die Diktatur der KPdSU zur Leitfigur der russischen Nationalisten und Warner vor dem verderblichen Einfluß des Westens. Nicht zuletzt deshalb hielt Wladimir Putin große Stücke auf Solschenizyn, weswegen er den „Archipel Gulag“ 2009 offiziell zur Schullektüre in ganz Rußland erklärte.

Zu diesem Zeitpunkt zählte Solschenizyns Werk schon zu den hundert bedeutsamsten Büchern des 20. Jahrhunderts – und tatsächlich hatte seine Rezeption gravierende Folgen gehabt. Insbesondere verstärkte der „Archipel Gulag“ die Ablehnung des Sowjetsystems im Westen in ganz erheblichem Maße. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer Desillusionierung vieler Kommunisten in Frankreich, Italien, Spanien und anderen Ländern der freien Welt. Damit schlug die Geburtsstunde des sogenannten Eurokommunismus, der durch eine klare Abwendung vom sowjetischen Vorbild gekennzeichnet war. Darüber hinaus verflüchtigte sich die Sympathie der meisten westlichen Intellektuellen für das vermeintliche „Mutterland der Werktätigen“, welches dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit schon recht nahe gekommen zu sein schien. So schrieb der tonangebende französische Denker Jean-Paul Sartre: „Es gibt keinen Sozialismus, wenn jeder zwanzigste Bürger im Lager sitzt.“

Letztlich gelang es Solschenizyn, die große Lebenslüge der Verehrer des Sowjetsystems zu pulverisieren. Diese bestand in dem Irrglauben, daß Lenin und die Bolschewiki 1917 mit den besten Absichten an den Aufbau des Kommunismus herangegangen seien und Stalin das Ganze dann pervertiert habe.

Mit seiner Kritik am Lagersystem zu Zeiten Lenins, Stalins, Chruschtschows und Breschnews legte Solschenizyn außerdem auch eine Enzyklopädie über den „Archipel Gulag“ vor, die als Ausgangspunkt für zahlreiche historische Forschungsvorhaben dienen konnte, obgleich das Konglomerat aus Quellenmaterialien, Augenzeugenberichten und psychologischer Analyse kein typisches Geschichtswerk ist, wie der Verfasser selbst eingestand, als er vom „Versuch einer künstlerischen Untersuchung“ sprach.

Außerdem weist das Buch trotz aller Monumentalität Lücken auf. Unter anderem ignorierte Solschenizyn die Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen innerhalb des sowjetischen Repressionsapparates, was die Fortentwicklung des „Archipels Gulag“ betraf. Desgleichen fehlen Ausführungen über die rund 25 „Besserungsarbeitslager“ im Kolyma-Gebiet im Nordosten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Hier zeigen sich die nachteiligen Folgen des Umstandes, daß Schalamow mit seinem profunden Wissen über die Situation an der Kolyma nicht mit von der Partie gewesen war.

Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG. Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2008, broschiert, 544 Seiten, 20 Euro