© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/23 - 01/24 / 22. Dezember 2023

„Ein Licht, zu erleuchten die Heiden“
Weihnachten – ein Fest des Friedens? In unruhigen Zeiten lohnt sich der Blick auf das, was sich in Bethlehem nach christlicher Überzeugung zugetragen hat, ganz besonders
Dietmar Mehrens

Eine Taube in einer grauen Wand. Fast scheint sie mit den Steinen eins zu werden. Das Bild hat eine christliche Missionarin im Westjordanland unter dem Eindruck des jäh aufgeflammten Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern gemalt. Die Wand, es soll die Wand des zerstörten Tempels sein, man nennt sie auch Klagemauer, ist grau. Die Taube ist es auch. Der Vogel, der sich in einen Hohlraum geduckt hat, hebt sich also farblich kaum von dem Mauerwerk ab. Ein anschauliches Bild dafür, daß Friede derzeit nichts für den ersten Blick ist, und dafür, daß dennoch eine große Sehnsucht da ist, die so viele Menschen in diesen Tagen teilen: daß man ihn doch finden möge, den Frieden. Auch fernab vom Heiligen Land, an der russisch-ukrainischen Grenze, möglicherweise aber auch an westlichen Universitäten, wo ein ungeahnter Haß aufgeflammt ist, oder in deutschen Wohnstuben, wo der Groll über eine als Zumutung empfundene Dilettantenregierung sich zu immer finstereren Gewitterwolken zusammenbraut oder Gräben, die zwischen 2020 und 2022 Meinungsverschiedenheiten aufgerissen haben, noch nicht wieder zugeschüttet sind.

Das Bild mit der gut getarnten Taube entstand in Beit Jala bei Bethlehem. Zum dortigen Haus der Begegnung gehört eine Kindertagesstätte. In bewegenden Worten berichtet die Betreuerin, was der Krieg mit den Kindern dort macht. Ob das ein Turm sei, in dem man sich verstecken könne, was der kleine Junge da mit Lego baue, spricht sie eines der Kinder an. Nein, antwortet der, das sei eine Waffe, und schießt mit dem selbstgebastelten Kriegsspielzeug auf sie. Ziemlich normal für Kinder in der Region. Raketen fliegen, Häuser wackeln. Das will verarbeitet werden. Aber dann doch lieber so: „Wißt ihr auch, was wir mit den Leuten machen sollen, die uns angst machen oder etwas Böses tun?“ fragt eine andere Kita-Mitarbeiterin kurz nach dem Hamas-Angriff die Kinder und liefert auch gleich die Antwort: „Wir sollen sie lieben und für sie beten! […] Wollen wir das heute gemeinsam tun?“

Unruhige Zeiten ausgerechnet dort, wo der Überlieferung zufolge das Christentum zur Welt kam. In Bethlehem, so schildert es die bekannte Weihnachtsgeschichte, die der Arzt Lukas aufgeschrieben hat, begann unter widrigen Umständen in einem Stall zwischen Ochs’ und Esel das Erdendasein des berühmten Nazareners, dem wir das Christfest und Ostern und Pfingsten und so vieles andere mehr verdanken. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, wie diese ungewöhnliche Geschichte, die wir alle kennen, weiterging, da, wo die Verkündigungsabschnitte in den Weihnachtsgottesdiensten meist enden. Denn das, was sich damals in Bethlehem zugetragen hat, war ja der Anfang, nicht das Ende der Geschichte.

In Jerusalem gab es damals einen vermutlich nicht mehr ganz jungen Mann. Er heißt Simeon. „Fromm und gottesfürchtig“ nennt ihn Lukas in seinem Bericht. Er kennt sich aus in den heiligen Schriften der Juden. Er weiß von dem „Trost Israels“, der darin an vielen verschiedenen Stellen prophezeit wird. Gewiß kannte er die Stelle im Buch Daniel, wo vom Sohn eines Menschen die Rede ist, der vom Himmel kommt und mit sagenhafter Macht ausgestattet wird. Das Kind aus der Krippe wird diesen Titel später als Vorzugsbezeichnung wählen, wenn es von sich selbst spricht: „Menschensohn“.

Der alte Simeon hat irgendwann eine ominöse Audition gehabt, eine Weissagung über sich selbst vernommen: Er werde erst sterben, wenn er den in den heiligen Schriften der Juden vielfach angekündigten „Retter“ gesehen habe. Eines Tages verspürt Simeon ein unbezähmbares Ziehen. Da ist etwas, das ihn zieht, in Richtung Tempel zieht. Irgendwas ist da heute los, das ihm keine Ruhe läßt. Er geht hin und wird Zeuge der rituellen Handlung, die, der jüdischen Thora gemäß, an dem Kind vorgenommen wird, das kürzlich in Bethlehem zur Welt gekommen ist. Aber Simeon merkt: Der Säugling da im Jerusalemer Tempel ist kein normaler Junge. Wie elektrisiert geht der gottesfürchtige Mann auf das junge Paar mit seinem Erstgeborenen zu und nimmt ihnen das Kind in einer spontanen Geste des Hingerissenseins weg. Jedenfalls ist Jesus auf einmal bei Simeon auf dem Arm. Der ist auf unerklärliche Weise davon überzeugt, daß sich mit dem Anblick des Jungen die alte Prophezeiung erfüllt hat, die er seit Jahren im Geiste mit sich herumträgt. Und ergriffen ruft er aus: „Herr, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Retter gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel.“

Offenbar hat die Szene im Gewusel des Tempels für etwas Aufsehen gesorgt. Denn jetzt tritt auf einmal eine Greisin dazu, eine 84 Jahre alte Witwe namens Hanna, die sich als Prophetin einen Namen gemacht hat, als eine Frau also, die nach Überzeugung der Menschen, unter denen sie lebt, mehr sehen kann als sie, die normalen Sterblichen. Botschaften aus der Sphäre des Göttlichen kann sie empfangen. Sie bestätigt Simeons verblüffenden Befund und spricht von der „Erlösung Jerusalems“, die auf schwer faßbare Weise mit diesem wenige Tage alten Säugling zu tun haben soll.

Nur das Lukasevangelium, das dritte der sogenannten synoptischen Evangelien, enthält die Weihnachtsgeschichte, diesen sagenhaften Bericht über die Umstände, Vorläufer und Nachbeben der Geburt Jesu. Theologen sprechen vom „lukanischen Sondergut“. Gemeint sind die etwa fünfzig Prozent des Evangeliumstextes, die weder im Parallelbericht des Evangelisten Matthäus noch in dem von Markus auftauchen. Stärker als diese beiden versucht Lukas, das Kommen des Messias – und dazu dienen auch die affirmativen Zeugnisse der Prophetin Hanna und des frommen Simeon – als Zeit der Erfüllung darzustellen.

Aus diesem Grunde ist das Lukasevangelium gespickt mit Verweisen auf Propheten wie Jeremia oder Jesaja, die nach Auffassung des Evangelisten den Erlöser angekündigt haben. Ausführlich wird Johannes der Täufer als Wegbereiter und letzter Prophet vor dem Kommen des Menschensohns gewürdigt. Als mit dem Geist des Propheten Elia gesegnet wird Johannes seinem Vater, dem Priester Zacharias, durch einen Engel angekündigt. Sein erster öffentlicher Auftritt wird mit einem Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja eingeleitet.

Noch eindeutiger wird Jesus in den Kontext der Propheten gestellt, etwa wenn Jesus selbst sich bei seinen Jüngern erkundigt, für wen die Leute ihn halten (Lukas 9), und die Antwort bekommt, viele sähen in ihm den wiedergekommenen Elia oder einen der anderen Propheten der vorchristlichen Ära.

Jesus selbst behauptet, daß Johannes der Täufer der letzte Prophet gewesen und mit ihm die Epoche von Gesetz und Propheten erfüllt sei (Lukas 16,16). In dem berühmten Jesus-Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Lukas 20) stehen die getöteten Boten für die Propheten; mit der Ermordung des Sohnes des Weinbergbesitzers, in dem die Arglist der Pächter gipfelt, stellt sich Jesus demonstrativ in eine Reihe mit den Propheten, die vor ihm litten und sterben mußten – und antizipiert zugleich seinen eigenen Tod. Er selbst wird nicht müde zu betonen, daß mit seinem Kommen ein neues Zeitalter begonnen hat: das eines himmlischen Königreiches, dessen Untertanen (die Jesus-Jünger, später: die Christen) während ihrer begrenzten irdischen Lebenszeit bereits in dieses Reich eintreten können – durch Buße und Bekehrung – und damit den Status einer Bürgerschaft mit Vorbehalt erlangen. Mit dem irdischen Tod vervollkommnet sich diese zu einer voll rechtsgültigen Bürgerschaft in dem überirdischen Reich. Das Osterereignis – der Sieg über Zeitlichkeit und Tod – ist das Beglaubigungssiegel dieser Verheißung, die überdies nicht nur Juden, sondern auch Heiden (dem Okzident, also uns) gilt.

Aus dieser Vorstellung resultiert die große Faszination von Weihnachten. Weil mit dem Kind in der Krippe etwas ganz Neues beginnt, ein Friedensreich, das nicht von dieser Welt ist, wird dieses Fest auch in den unruhigsten Zeiten – man denke an Weihnachtsfeiern im Weltkrieg, in der Etappe, überlagert von Geschützdonner – mit Frieden in Verbindung gebracht. Frieden mitten im Krieg, genährt durch die Überzeugung, daß der Tod nicht das letzte Wort hat, weil an Weihnachten die Tür aufging zu jener anderen Welt, auf die Christen hoffen dürfen. Mit politischen Mitteln, mit Feldzügen, Bomben und Granaten kann dieser Friede nicht erstritten werden. Er verwirklicht sich ausnahmslos im zwischenmenschlichen Bereich. Hier ist das Private mal nicht politisch, hier ist das Private metaphysisch. Wir kennen das Logion „Selig die Friedensstifter“ aus der Bergpredigt, die bei Lukas eine „Feldrede“ ist. Da verspricht Jesus mit der Autorität, die ihm von seinem „Vater im Himmel“ gegeben ist, Seligkeit denen, die jetzt den Weg der Barmherzigkeit, der Armut, der Versöhnung und des Friedens gehen, weil er ihnen einen Lohn dort in Aussicht stellt, wo zeitliche Herrscher, irdische Armeen, menschliche Regimenter nichts zählen. Nur so, im Verzicht auf eine irdische Gerechtigkeit, für die es nie eine Garantie geben kann, geht die Friedensformel auf. Wer nicht darauf besteht, im Recht zu sein, und auf Haß mit Liebe antwortet, kann tatsächlich „Frieden schaffen ohne Waffen“. Das ist die Botschaft Jesu.

Weihnachten ist ein Fest für die dunkle Jahreszeit. Jetzt ist es viel leichter, sich einen Begriff von der eigenen Endlichkeit zu machen, als in lebensprallen, sonnendurchfluteten Sommergärten. In der Finsternis kann das Licht aus der Ewigkeit seinen ganzen Glanz entfalten. Das Wissen um die eigene Zeitlichkeit lehrt Demut. Demut macht friedensfähig. 

Und deswegen geben die Missionare von Beit Jala auch in diesen düsteren Zeiten des Krieges, der das Programm im Vergleich zu früher spürbar einschränkt und „keine großen Aktionen“ erlaubt, die Botschaft von Weihnachten an ihre Kita-Kinder weiter. Sie sind fest entschlossen, „die Geburt dessen, der uns aus der Gewalt der Finsternis befreit hat“, auch dieses Jahr mit den Kleinen zu feiern und das Licht aus der Höhe scheinen und in ihre verängstigten Seelen fallen zu lassen.