Darf ein möglicher Straftäter, dessen Tat durch neue Techniken der Beweisführung (DNA-Analyse) nachgewiesen werden könnte, ein zweites Mal in Fällen schwerwiegender Verbrechen wie Mord oder Völkermord angeklagt werden, wenn dieser in einem früheren, gegebenenfalls Jahrzehnte zurückliegenden Verfahren mangels Beweisen freigesprochen wurde? In dem betreffenden Fall ging es um einen Mann, der 1981 eine Schülerin in Niedersachsen umgebracht haben soll und auf Basis neuer Beweise abermals angeklagt wurde.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG; 2 BvR 900/22) entschied am 31. Oktober 2023, daß dies nicht rechtens sei. Es gelte der Grundsatz „ne bis in idem“ – niemand soll zweimal wegen derselben Sache vor Gericht gestellt werden. Lediglich bei schwerwiegenden Verfahrensfehlern oder bei einem Geständnis des Freigesprochenen könne ein rechtskräftiges Verfahren neu aufgerollt werden. Das Urteil stieß in Teilen der Gesellschaft auf Unverständnis – menschlich durchaus nachvollziehbar.
„Freisprüche auf Widerruf“ grundsätzlich vermeiden
Dabei gilt es, die Unterscheidung zwischen Legalität (dem geltenden Recht entsprechend) und Legitimität (ethischen Normen entsprechend, Gerechtigkeit) zu beachten. Das höchste deutsche Gericht beruft sich auf Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz. Danach müssen „Freisprüche auf Widerruf“ grundsätzlich vermieden werden, um Rechtssicherheit zu gewährleisten, ohne die ein Leben in Würde und Freiheit kaum mehr möglich sei. Der Rechtsfriede habe unbedingten Vorrang gegenüber Gerechtigkeitserwägungen. Soweit das BVerfG.
Fast zeitgleich befaßte sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einer scheinbar ähnlichen Fragestellung. In jenem Fall ging es um die vermeintlich unlauteren Geschäftspraktiken von VW im Zusammenhang mit einer Schadstoffsoftware, die das Unternehmen als den Vorgaben der Umweltschutzvorschriften entsprechend beworben hatte. Auch wurde dem Autobauer eine fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht vorgehalten, denn der Zulieferer Bosch soll den Konzern vor einer illegalen Verwendung seiner Technik zur Abgasnachbehandlung gewarnt haben.
In Deutschland verhängte die Staatsanwaltschaft gegen die Volkswagen AG 2018 deshalb eine Geldbuße in Höhe von einer Milliarde Euro, die mit der Zahlung rechtskräftig wurde. Weltweit waren insgesamt 10,7 Millionen Fahrzeuge betroffen. Etwa 700.000 dieser Diesel-Pkw wurden in Italien verkauft, weshalb die italienische Wettbewerbsbehörde bereits 2016 eine Geldbuße von fünf Millionen Euro verhängte. Gegen diese Zahlungsaufforderung legte VW jedoch Rechtsmittel beim regionalen Verwaltungsgericht Latium ein.
Der von dort angerufene EuGH entschied in seinem Urteil (C‑27/22) am 14. September 2023, daß die zusätzliche italienische Geldbuße in der selben Sache gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen würde. Zur Begründung verweist der Gerichtshof auf Artikel 50 der Charta der Grundrechte der EU (GRC), nach der niemand „wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“ darf. Also zwei praktisch gleichlautende Urteile zur gleichen Zeit?
Eher nein, denn die Urteile betreffen ganz unterschiedliche Geltungsbereiche. Das BVerfG stellt auf natürliche Personen (Straftäter) ab und damit auf das allgemeine Strafrecht im engeren Sinne. Zudem gilt der Schutz vor erneuter Anklage nur vor deutschen (Straf-)Gerichten. Demgegenüber hat die EuGH-Entscheidung Unternehmen als juristische Personen im Blickpunkt, für die es allerdings kein Unternehmensstrafrecht gibt. Denn sie gelten als handlungs- und schuldunfähig – und damit als nicht straffähig.
Für sie ist nur das Ordnungswidrigkeitenrecht anwendbar, in Deutschland vor allem Paragraph 30 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. Insofern hat der EuGH den Geltungsbereich des Art. 50 GRC – Verbot einer zweimaligen Strafverfolgung – auf Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur (Kriterium: hohe Bußgelder) stark ausgeweitet. Auch gilt das Urteil europaweit und bewahrte den VW-Konzern nur so davor, weitere fünf Millionen Euro in gleicher Sache in Italien zahlen zu müssen. Ausnahmen gelten allerdings dann, wenn die Buße keine übermäßige Belastung darstellt, sie klar vorhersehbar ist und die Verfahren in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden – was hier eigentlich vorliegen würde. Schließlich ist eine weitere Geldbuße dann möglich, wenn zwar der Sachverhalt identisch ist, jedoch mit der Sanktion unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Im Fall VW wäre zum einen eine umweltpolitische Bestrafung, zum anderen eine Sanktionierung eines wettbewerblichen Mißbrauchstatbestands denkbar.
EU-weiter Abgleich nationaler Rechts- und Sanktionssysteme
Das Urteil könnte vom EuGH nicht beabsichtigte Anreize für ein strategisch kluges Handeln von Unternehmen und Staaten setzen. Für potentiell betroffene Unternehmen wird es vorteilhaft, einen EU-weiten Abgleich nationaler Rechts- und Sanktionssysteme vorzunehmen, um dann zügig ein rechtskräftiges Urteil in einem EU-Staat mit relativ milden Geldbußen zu erlangen. Dieses auch als „Forum Shopping“ benannte taktische Verhalten würde eine spätere, rechtskräftig ergehende und wesentlich härtere Sanktion in einem anderen Mitgliedstaat blockieren. VW hätte im besagten Fall die italienische Geldbuße von fünf Millionen Euro forcieren müssen, um deren Rechtskräftigkeit vor der deutschen Strafe in Höhe von einer Milliarde Euro zu bewirken – eine Ersparnis von 995 Millionen Euro wurde so aus Aktionärssicht vertan.
Als vorteilhaft kommen zukünftig Selbstanzeigen von Unternehmen wie auch eine gezielte Kooperation mit nationalen Verwaltungen in Frage, um eine günstige Bestrafung für einen möglichst umfassenden Tatbestand kurzfristig zu erlangen. Ein Unterbietungswettbewerb sanktionswilliger nationaler Behörden bis hin zu „Sanktions-Oasen“ scheint nicht ausgeschlossen. Letztendlich weiß der Finanzminister von Malta dann gar nicht mehr, wohin zukünftig mit den potentiellen Ordnungsgeldern von VW, Microsoft, Exxon Mobile und anderen Großkonzernen. Allerdings drohen unverändert zivilrechtliche Ansprüche.
Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
EuGH-Urteil vom 14.09.2023, Az. C-27/22: curia.europa.eu