© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/23 - 01/24 / 22. Dezember 2023

Die großen Notenbanken verändern ihre Leitzinsen vorerst nicht
Chaostage an den Märkten
Thomas Kirchner

Chaos bricht aus, nachdem Jerome Powell Zinssenkungen in Aussicht stellt. Kommt jetzt die versprochene weiche Landung, also eine Normalisierung des Wachstums, ohne daß es eine Rezession gibt? Ist es nur Wahlkampfhilfe für Joe Biden? Noch am 1. Dezember verkündete der Präsident der US-Zentralbank Fed, es wäre verfrüht, über Zinssenkungen zu spekulieren.

Zwölf Tage später dann die Kehrtwende: Ein Diskussionsthema seien sie und lägen im Blickfeld. Daß Wahlen bevorstehen, berücksichtige die Fed nicht. Die Märkte reagierten prompt. Zweijährige Zinsen fielen 0,30, zehnjährige 0,15 Prozent. Dow Jones und S&P 500 stiegen auf neue Rekordwerte. Die Aktien-Kaufwelle wurde durch das Eindecken von leerverkauften Positionen befeuert. Besonders stark stiegen verlustbringende Technologiewerte und die bei Privatanlegern beliebten, von Institutionen leerverkauften SPAC- und Reddit-Aktien. Die Geister streiten sich bei der Bewertung von Powells Wende. Nur fünfmal in den letzten 90 Jahren senkte die Fed Zinsen, wenn die Arbeitslosenquote unter der Inflationsrate lag. Einmal war Krieg (1942), die anderen Viermal herrschte eine Rezession.

Und diese sehen viele kommen. Zwar legte die US-Industrieproduktion im November zu. Das liegt aber am Ende der Streiks in der Autobranche. Vorwärtsgewandte Indikatoren wie Einkaufsmanager stehen weiterhin auf Rezession. Die Auftragslage der Industrie in New York, die als Barometer für das ganze Land gilt, verschlechtert sich. Arbeitsmarktdaten sind zwiespältig – die statistisch saisonbereinigte Quote sieht gut aus, doch es dauert immer länger, bis Arbeitslose einen Job finden, was nicht nach Optimismus in den Personalabteilungen riecht. Auch die invertierte Zinskurve (die Renditen länger laufender Anleihen liegen unter denen der Kurzläufer) deutet auf eine Rezession hin. Nach der Inversion von 2006 dauerte es allerdings noch zwei Jahre, bis die Rezession einsetzte. Powells plötzliche und radikale Kehrtwende bleibt rätselhaft. Möglicherweise war sie so nicht abgestimmt. Denn in den Tagen danach widersprachen ihm gleich drei Fed-Gouverneure. Erst John Williams (New York): „Wir reden derzeit nicht wirklich über Zinssenkungen.“ Dann Raphael Bostic (Atlanta): „Ich denke nicht wirklich, daß dies unmittelbar bevorsteht.“ Und Austan Goolsbee (Chicago) sieht die Zinsen 204 zwar niedriger, aber nicht viel niedriger.

Das Chaos war perfekt. Aktienkurse fielen wieder, zehnjährige Anleihen rentierten 0,15 Prozent höher als kurz nach der Powell-Andeutung, aber immer noch 0,25 Prozent niedriger als vor seiner Aussage. Der Goldpreis durchlief eine vergleichbare Achterbahnfahrt. Zum Ende der Woche blieben immerhin zwei Billionen Dollar Wertzuwachs der Aktien- und Anleihemärkte allein in den USA, nochmal soviel im Rest der Welt.

Die Bank von England beließ ihren Leitzins bei 5,25 Prozent. Ihr Chef Andrew Bailey warnte, es sei noch ein langer Weg bis zur Eindämmung der Inflation. Der zu erwartende Zinsvorteil im Pfund ließ den Wechselkurs steigen. Der Markt hält nach wie vor an Erwartungen für Zinssenkungen im Mai fest. Die EZB verhielt sich genauso, senkte aber ihre Prognosen für die Inflation 2024 und 2025. Kurzfristig könne sie auch wieder steigen. Das Jahresende ist normalerweise eine ruhige Zeit, aber auch eine ohne Liquidität in den Märkten. Überbewertete Aktien können deshalb scharfe Kurskorrekturen erleben.