Mehr als vier Kilometer Länge in bis zu 50 Meter Tiefe: Das ist das Tunnelsystem, das die israelische Armee jüngst im Norden des Gazastreifens entdeckt hat. Dazu lieferte sie ein Video, auf dem zu sehen sein soll, wie der Bruder von Hamas-Chef Jachja Sinwar im Auto durch einen Schacht mit beachtlichem Durchmesser fährt. Es ist ein spektakulärer Fund, der daran erinnert, wie ausgereift die „Metro“ der Hamas ist – und wie schwer für Israel, sie auszuschalten.
Über der Erde ist die Armee derweil weit vorgerückt: Nach einer einwöchigen Waffenruhe Ende November, während der die Hamas 105 zivile Geiseln freiließ, hat sie ihre Bodenoperation auf den Süden der Küstenenklave ausgeweitet. Irgendwo hier vermutet Israel die Hamas-Führung. Die Armee ist darum bemüht, gezielt die Kommandostrukturen der Terrororganisation zu zerschlagen. Daß die Hamas in Bedrängnis ist, läßt sich daran ablesen, daß sie immer weniger Raketen nach Israel schießt, vor allem kaum noch ins Zentrum des Landes.
Die innenpolitischen Mißtöne in Israel haben zugenommen
Während im Gazastreifen die Opferzahlen steigen und die Zerstörung zunimmt, ist auch in Israel das Leid nach wie vor präsent: Mehr als 130 Soldaten, meist junge Männer, sind während der Bodenoperation gefallen, darunter ein Sohn von Gadi Eisenkot, einem Mitglied des Kriegskabinetts. Zudem befinden sich noch immer rund 130 Geiseln in den Händen der Hamas. Während die Soldaten vorrücken, stoßen sie auf Leichen vermißter Israelis. Zu einem traumatischen Ereignis kam es, als die Armee drei Geiseln tötete, die sich nach israelischen Erkenntnissen mit einem weißen Transparent aus einem Gebäude herausbegeben hatten.
Der Fall löste Entsetzen in Israel aus und hob die Geiselproblematik wieder ganz oben auf die Agenda: Inzwischen sind Sondierungen über einen weiteren Geisel-Deal mit der Hamas angelaufen. Das Verhältnis zwischen den Geiselangehörigen und der Regierung ist angespannt. Einige werfen Premierminister Benjamin Netanjahu vor, durch die Militärkampagne das Leben der gefangenen Israelis zu gefährden. Die Regierung sagt, nur durch das weitere Vorrücken der Soldaten könne Druck auf die Hamas aufgebaut werden.
Zwar ist Israel nach wie vor im Ziel geeint, die Terrororganisation zu vernichten. Allerdings haben die innenpolitischen Mißtöne zugenommen. Zuletzt sorgte die Verabschiedung eines Ergänzungshaushaltes für Auseinandersetzungen: Oppositionsvertreter warfen der Regierung vor, sich ausgerechnet in der aktuellen Lage Mittel zugunsten der eigenen Klientel zuzuschustern. Auch Netanjahu-Rivale Benny Gantz, der nach Kriegsausbruch in die Koalition eingetreten war, stimmte gegen den Haushaltsplan.
Verteidigungsminister Joav Gallant stellte jüngst noch einmal klar, der Krieg im Gazastreifen werde „mehr als einige Monate“ dauern. Bislang hat Israel noch den Rückhalt aus den USA. „Ich weiß, daß sich Israel seit dem 6. Oktober tiefgreifend verändert hat“, betonte Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III bei seinem Besuch in Tel Aviv im Gespräch mit Gallant. „Ich bin mit einer klaren Botschaft hier. Amerikas Unterstützung für Israels Sicherheit ist unerschütterlich“, erklärte Austin III und unterstrich: „Wir wissen, daß die vergangenen 72 Tage zu den schmerzhaftesten Tagen in der Geschichte Israels gehören. Aber es würde diese Tragödie noch verschlimmern, wenn am Ende dieses schrecklichen Krieges nur noch mehr Unsicherheit, Wut und Verzweiflung auf das israelische Volk und seine palästinensischen Nachbarn warten würden.“ Israelis und Palästinenser „verdienen einen Horizont der Hoffnung“. Es liege im Interesse beider Völker, die „Zweistaatenlösung“ zu unterstützen und Seite an Seite in gegenseitiger Sicherheit zu leben, so Austin.
Derweil richtet Israels Führung ihren Blick nun wieder verstärkt in den Norden: Die täglichen Geschosse und Drohnenangriffe der Hisbollah aus dem Libanon lösen an manchen Tagen mehr Alarm aus als jene aus dem Gazastreifen. Israel verlangt den Rückzug der schiitischen Miliz von der Grenze. Jerusalem ist bemüht, zu diesem Zweck die internationale Gemeinschaft zu mobilisieren. Sollte sich die Hisbollah nicht bewegen, droht der nächste Krieg.