Wenn sich Beobachter und Politiker aus unterschiedlichen Staaten, unterschiedlichen politischen Lagern und unterschiedlichen Funktionen am Ende eines EU-Gipfels einig sind, dann handelt es sich meist um die schlichte Feststellung, daß man nun doch einen „salomonischen Kompromiß“ erzielt habe und „Freud und Leid eng beieinander“ liegen würden, wie es ein britischer Pressevertreter bei einem Zigarettengespräch am Sonntag in Brüssel ausdrückte.
Beim „salomonischen Kompromiß“ handelt es sich zweifellos um den Umgang mit der Ukraine. Die kann sich zwar, gemeinsam mit Moldawien und Georgien, auf den offiziellen Beginn der Beitrittsgespräche zur EU freuen, muß aber gleichzeitig hinnehmen muß, daß die versprochenen EU-Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliarden Euro nicht nach Kiew fließen. Verantwortlich dafür war Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, der zuvor noch angekündigt hatte, den Entscheid zur formellen Aufnahme der Beitrittsgespräche mit seinem Veto zu verhindern, egal „wieviel Druck auf ihn ausgeübt“ werde. Die Ukraine habe drei der sieben Beitrittsvoraussetzungen nicht erfüllt, also könne es auch keine Verhandlungen geben. Stattdessen ging der Politikveteran aus Budapest kurz vor der Abstimmung „einen Kaffee trinken“, wie es ein deutscher Diplomat in der Presse umschrieb. Ein Verfahren, das die nötige Einstimmigkeit unter den restlichen Anwesenden brachte und offenbar auf eine Abmachung zwischen Scholz und Orbán zurückging. Ein Novum in der Geschichte des Handelsblocks, das Orbán im nachhinein auf dem Kurznachrichtendienst X damit erklärte, daß sein Land an der Abstimmung „nicht teilgenommen“ habe.
Auch Spanien hält sich bei der Ukraine-Hilfe zurück
Im Gegensatz zur Abstimmung über besagte Finanzmittel: Hier blockierte Ungarn mit seinem Veto eine einstimmige Entscheidung – was wütende Proteste bei anderen Gipfelteilnehmern nach sich zog. Vor allem die baltischen Staaten, die sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine besonders deutlich auf die Seite der Regierung in Kiew gestellt haben, machten ihrer Empörung lautstark Luft. Man werde die Ukraine „nicht alleine lassen“, kündigte die estnische Regierungschefin Kaja Kallas an.
EU-Ratschef Charles Michel zeigte sich zuversichtlich, dennoch die erforderlichen Mittel aufbringen zu können. Das müßte der Wallone dann allerdings am offiziellen EU-Haushalt vorbei zustande bringen, eine Koalition der Finanzwilligen könnte hier Abhilfe schaffen. Auffällig zurück mit konkreten Zusagen hielten sich die großen Spieler der EU. Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte zwar, daß man weiterhin die Ukraine unterstützen werde, und auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete das ungarische Vorgehen als „Geiselnahme“ der EU-Mehrheit. Doch weder der deutsche Kanzler noch sein französischer Gegenpart wollten bereits jetzt in die konkrete Finanzierung einsteigen. Einige Insider in Brüssel vermuten, daß dies bereits die ersten Anzeichen einer zunehmenden Kriegsmüdigkeit in Westeuropa sein könnten. Auch Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez – in seinem eigenen Land stark unter Druck und politisch angeschlagen – hielt sich mit öffentlichen Aussagen zur Ukraine zurück.
Orbán hingegen bekräftigte wenig später seine ablehnende Haltung – dies obwohl die EU-Kommission kurz zuvor beschlossen hatte, die Auszahlung von 10,2 Milliarden Euro der insgesamt eingefrorenen 30 Milliarden Euro aus Mitteln der Kohäsionspolitik für Ungarn freizugeben – und kündigte außerdem an, er könne weiterhin an „27 unterschiedlichen Zeitpunkten“ den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union stoppen. Macron dürfte sich mit seiner Aussage über eine ungarische Politik der Geiselnahme auch auf diese Ankündigung bezogen haben, er hoffe dennoch darauf, daß der Ungar „Verantwortung“ zeigen werde. Zweifel an einer zunehmenden Kompromißbereitschaft Orbáns sind jedoch berechtigt. Im neuen Jahr stehen schließlich EU-Wahlen an.
Bereits seit einiger Zeit tauchen in ungarischen Städten Großflächenplakate auf, die einzelne EU-Exponenten persönlich angreifen. Hinter Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Charles Michel stünden, so die Plakatkampagne, der ungarisch-jüdische Großinvestor George Soros und sein Sohn. Der selbsternannte Philanthrop ist Orbán seit längerem ein Dorn im Auge. Soros unterstützt auf der ganzen Welt liberale und dezidiert migrationsfreundliche NGOs, ein Feindbild für Rechte und Konservative in mehreren Ländern.
Auch darum sollte es in der letzten Sitzung der EU-Mitgliedstaaten in diesem Jahr gehen: Das Dauerthema Migration treibt weiterhin die Stimmung in vielen Mitgliedsstaaten. Aus Sicht des französischen Staatschefs habe Orbán mit seinem Veto zur Ukraine-Finanzhilfe auch Mittel für die bessere Migrationskontrolle blockiert, ein Vorwurf, den der Sprecher des ungarischen Premiers sofort zurückwies. Im Gegenteil, Ungarn „unterstützt das Anliegen“, mehr Geld in die Kontrolle der Migration zu investieren. Das sei „immer schon“ die Position Orbáns gewesen.
So bleibt am Ende des Gipfels für viele ein bitterer Nachgeschmack. Während große Teile der europäischen Rechten auf ein deutliches ungarisches Veto zu den Beitrittsverhandlungen gehofft hatten, empören sich Moderate und Liberale über die klare Absage für die Milliardenhilfe an Präsident Wolodymyr Selenskyj. Denn dessen Regierung benötigt dringend die Mittel aus der EU. Nachdem der US-Senat zuletzt ebenfalls weitere Finanzmittel für den Krieg in der Ukraine gestoppt hatte, gehen dem ukrainischen Staatschef die möglichen Partner für eine Fortführung des Krieges aus. Mit der US-Präsidentschaftswahl und der EU-Wahl vor der Tür, droht das nächste Jahr ein ausgesprochen mageres für den ukrainischen Haushalt zu werden.
Georgiens Premier dankte vor allem den Vereinigten Staaten
Immerhin, uneingeschränkt freuen kann sich die Regierung in Tiflis. Der georgische Premierminister Irakli Garibaschwili bezeichnete die Entscheidung der EU als Erfolg. Sein Land sei „zu einem europäischen Staat geworden“, eine Entwicklung, die seine Partei stets als Endziel vor Augen gehabt habe. Großen Dank sprach Garibashvili zuvorderst einem Land aus, das bei den Verhandlungen gar nicht am Tisch saß – den Vereinigten Staaten. Eine Fußnote des EU-Gipfels, die bei dem einen oder anderen Politiker in Paris und Berlin Magenschmerzen auslösen könnte und den anderen großen Unbeteiligten des Gipfels.
Die Entscheidung der EU, Beitrittsgespräche mit der Ukraine und der Republik Moldau aufzunehmen und Georgien den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen, sei eine Politik, „die nicht zum Nutzen Europas, sondern lediglich zum Ärger Rußlands getroffen“ worden sei, ließ Kremlsprecher Dmitri Peskow nach Angaben der Nachrichtenagentur Tass im Anschluß verlauten. „Dies sind natürlich absolut souveräne Angelegenheiten von Georgien, der Ukraine und Moldawien. Dennoch ist der politisierte Charakter dieser Entscheidung sofort ersichtlich“, erklärte Peskow und betonte: „Bedauerlicherweise zielt dieser Wunsch, einen solchen politischen Willen zu zeigen, jedesmal darauf ab, Rußland weiter zu ärgern und diese Länder gegen Rußland aufzubringen.“