© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Das moralisch verwerfliche Subjekt
Serie Bewegende Köpfe, Teil 3: Eduard VII., Sohn Queen Victorias, wurde als britischer König zum Gegenspieler Kaiser Wilhelms II.
Rainer W. Schmidt

Er sollte nach dem Willen der Eltern der Musterknabe des Jahrhunderts werden. Ein leuchtendes Beispiel an Selbstdisziplin, Tugend und Bildung. Heraus kam das glatte Gegenteil: ein ausschweifender Lebemann mit alkoholgeschwängerten Gelagen in Nachtklubs und Bordellen, ein Dandy mit einem exzessiven Hang zu Glücksspiel, Pferdewetten und Müßiggang; und ein hemmungsloser, unersättlicher Erotiker, mit einem bis ins hohe Alter nie versiegendem Hang zu jungen Schauspielerinnen.

Sein testosterongesteuerter Kompaß führte ihn von einem Liebesabenteuer zum nächsten. Davon konnte ihn weder seine immense Leibesfülle noch seine Heirat mit Alexandra von Dänemark abhalten. Mindestens 55 bezeugte Mätressen warf er während seiner 47 Ehejahre auf die Matratze. Kein Wunder, daß er seine Eltern zur Verzweiflung brachte. Seinen schwer kranken Vater Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, der eigens zu einer Moralpredigt nach Oxford gereist war, um seinem dort nur herumlungernden zwanzigjährigen Sohn ins Gewissen zu reden und ihm aufzutragen, fortan jeden Tag einen Studienbericht abzuliefern, zermürbte er durch seine Renitenz dermaßen, daß er zwei Wochen nach dieser unfruchtbaren Begegnung starb. 

Und auch seine Mutter Victoria stöhnte auf, wenn sie ihn sah. „Oh, dieser Junge, so sehr ich ihn bedauere, ich kann und werde ihn niemals ohne ein Schaudern ansehen“, so vertraute sie ihrem Tagebuch an. Für sie war er der Schuldige am frühen Tod des geliebten Gatten. Seither war ihr Verhältnis zu ihm zerrüttet. Deshalb hielt sie ihn stets von der Politik fern; deshalb sah sie ihn nur zu den Familienfeiern; und deshalb setzte sie alles daran, dieses „moralisch verwerfliche Subjekt“, wie sie sagte, möglichst lange – bis 1901 – von der Nachfolge fernzuhalten.  

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen, nachdem er 1841 im Buckingham Palace das Licht der Welt erblickt hatte. „Von seiner Erziehung hängt das Wohl der Welt ab“, so hatte sein bis in die Haarspitzen disziplinierter Vater die Marschroute der geplanten Bildungs- und Belehrungstour ausgegeben. Das wichtigste Instrument dabei war die Einflößung von Wissen. Geschichtstabellen, Stammbäume und Lehrbücher beherrschten sein Dasein. Ja, der autokratische Zugriff des Erzeugers und dessen landsmannschaftlicher Anstrich war bei all dem so kräftig, daß der Sohn sein rollendes Zungen-R, das im Englischen so schwerfällig und stigmatisierend klingt, zeitlebens nie ablegen konnte. Von allen schlechten Einflüssen wurde er aseptisch abgeschlossen. Der Verkehr mit Gleichaltrigen wurde strikt unterbunden. Und unablässig ergoß sich ein Strom pädagogischer Denkschriften des Vaters über den unglücklichen Knaben, die er in dessen Beisein laut vorlesen und kommentieren mußte. 

An seinem 17. Geburtstag überreichten ihm die Eltern einen umfangreichen Brief, in dem sein ganzes Sündenregister aufgeführt war. „Ein Mann von Stand gibt sich nicht nachlässiger, faulenzender Bequemlichkeit hin, räkelt sich nicht hingestreckt in Sesseln und auf Sofas, zeigt beim Gehen keine schlaffe, schlottrige Haltung und steht nicht mit den Händen in den Taschen herum“, so hieß es da. Und: „Das Leben besteht aus Pflichten, und an der ihnen gebührenden pünktlichen und freudigen Erfüllung erkennt man den wahren Christen, wahren Soldaten und wahren Gentleman.“ Als der junge Mann das las, brach er in Tränen aus. Diesen schier übermenschlichen Ansprüchen konnte und wollte er nicht gerecht werden. Als sein Vater drei Jahre später im Grab lag, war das große Erziehungsexperiment zu Ende und rundweg gescheitert. Von diesem Augenblick an rührte er nie wieder ein Buch an, ging er allen seriösen Beschäftigungen aus dem Weg und konnte er sich nicht länger als eine halbe Stunde auf irgendeine ernsthafte Arbeit konzentrieren. 

Kaiser Wilhelm nannte seinen Onkel „Eduard, den Einkreiser“

Stattdessen studierte er fortan das Leben und erforschte die Gegenwelt, die ihm seine Eltern verschlossen hatten. Alles Versäumte holte er mit nie erlahmender Gründlichkeit und Neugier nach. Er stieg in die schmierigsten Spelunken hinab. Er zockte am Spieltisch und verlor Unsummen im damals verbotenen Baccarat, was ihm sogar einen Gerichtsprozeß eintrug. Er umgab sich mit fleckigen Spekulanten und sinistren Gestalten aus der Halbwelt; und, während andere Kunst oder Pretiosen sammelten, betätigte er sich als nie erlahmender Sammler von weiblichen Schönheiten, die er aus den Adelsschlössern oder aus den Kabaretts und Bordellen des Montmartre holte.

In diesem frivolen und dekadenten Bildungsprozeß, der von seiner lebenslangen Liebe zu Frankreich und dessen Lebensart noch befeuert wurde, avancierte er zum vollkommenen Gegentypus seines kaiserlichen Neffen. Anders als Wilhelm II., der sich darin gefiel, dröhnende, martialische Reden zu halten, vermied er öffentliche Ansprachen, wo es ging. Anders als dieser, der sich für einen Experten in der modernen Technik und Waffenproduktion hielt, war er ein Kenner und Liebhaber von Damenunterwäsche, die er in den Pariser Boutiquen kofferweise zusammenkaufte. Anders als dieser verabscheute er die Opern von Wagner und liebte die von Puccini. Und anders als dieser konnte er stundenlang geduldig zuhören, während sein Neffe unaufhörlich schwadronierte und schwülstige Monologe hielt. 

Der „brillianteste Versager der Weltgeschichte“, so titulierte er den stets wie sein Vater belehrend und besserwisserisch auftretenden Sohn seiner Schwester in Berlin. Und dieser revanchierte sich, ebensowenig charmant, indem er ihn als „alten Pfau“, als „Satan“ und wegen der unter seiner Ägide betriebenen britischen Annäherung an Frankreich als „Eduard, den Einkreiser“ titulierte. 






Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.