© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Vorsicht, Blondine!
Kino II: „Eileen“ ist eine Kriminalgeschichte, die lange nicht weiß, daß sie eine ist
Dietmar Mehrens

Finde ein Leben für dich“, fordert ihr Vater Jim Dunlop (Shea Whigham) seine Tochter Eileen (Thomasin McKenzie) auf. Das hübsche Mädchen hat keinen Freund und eine Arbeit, die viel Zeit läßt für wilde Tagträume. Eileen arbeitet an der Ostküste der USA als Sekretärin in einer Haftanstalt. Regelmäßig fährt sie mit dem Auto ans Meer, um auf andere Gedanken zu kommen. Würde sie dem Rat ihres Vaters folgen, wäre dieser vermutlich bald am Ende. Der aufgrund seiner schweren Alkoholsucht oft unzurechnungsfähige Witwer käme allein kaum zurecht und steht ständig kurz vor der Verhaftung, weil er mit seinem Revolver herumfuchtelt wie ein Dirigent mit seinem Taktstock und so andere gefährdet. 

Etwas frischer Wind kommt in Eileens tristen Alltag, als die neue Gefängnispsychologin Rebecca (Anne Hathaway) ihre Stelle antritt. Die charismatische und selbstbewußte Frau fasziniert Eileen vom ersten Moment an. Denn Rebecca verkörpert alles, was ihr selbst fehlt: schicke Klamotten, ein souveränes Auftreten und eine Form von Unabhängigkeit, die für Frauen in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ganz und gar untypisch war. Die beiden Frauen freunden sich rasch an. Die junge Sekretärin wittert eine Chance, in Rebeccas Windschatten ihrem öden Dasein zu entrinnen. Doch was als rettende Freundschaft mit homoerotischen Anklängen beginnt, entpuppt sich als Straße ins Verderben.

Der erste Einsatz der Therapeutin gilt einem Jungen namens Lee Polk, der seinen Vater ermordet hat. Rebecca wittert ein Motiv für die Bluttat, dessen Aufdeckung die Moralvorstellungen ihrer Zeit nicht zulassen.

Als sie ihre neue Freundin für ein kleines, privates Weihnachtsfest zu sich nach Hause einlädt, ist diese sofort Feuer und Flamme. Aber das Haus, in dem Rebecca sie empfängt, gehört gar nicht ihr, sondern dem Ehepaar Polk. Und als Eileen herausbekommen hat, was aus Mrs. Polk, Lees Mutter, geworden ist, findet die junge Frau sich in einem düsteren Alptraum wieder, der sie in ein mächtiges moralisches Dilemma stürzen wird.

„Eileen“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ottessa Moshfegh, die zusammen mit ihrem Mann Luke Goebel auch das Filmskript erstellte. Regisseur William Oldroyd taucht die Geschichte, die im Jahr 1964 in Massachusetts spielt, in atmosphärenreich trübe Winterbilder. Mehr als das Drehbuch, das lange Zeit gar nicht als Kriminalgeschichte zu erkennen ist und erst ziemlich spät Spannung aufbaut, nehmen das stimmige Zeit- und Lokalkolorit den Zuschauer gefangen. Gelungen ist auch die Figurenzeichnung. Thomasin McKenzie, die schon in „Last Night in Soho“ (JF 46/21) eine geheimnisvolle junge Frau darstellte, die es mit einer temperamentvollen Blondine zu tun bekommt, spielt die anfangs betont zugeknöpft auftretende und dann immer mehr auftauende Eileen nicht minder überzeugend als Oscar-Gewinnerin Anne Hathaway die mondäne Rebecca und Shea Whig-ham den ins Verderben aufgebrochenen Alkoholiker Jim. Schade nur, daß der Film jäh endet, kaum daß er so richtig in Fahrt gekommen ist.