Das Bundesverfassungsgerichts hat das zweite Nachtragshaushaltsgesetz der Bundesregierung von 2021 für „mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig“ erklärt. Doch die Ampelminister hatten für diesen Fall keinen Plan B. Aber auch viele Unternehmen, die seit Jahren die „Energiewende“, die Dekarbonisierung und die „grüne“ Klimapolitik der Bundesregierungen jeglicher Couleur bejubelten oder für alternativlos erklärten, wurden vom Karlsruher Urteil kalt erwischt: Was wird nun aus den Milliardensubventionen für die „Transformation“ zur „Klimaneutralität“?
Auch die Rußland-Sanktionen, der freiwillige Abschied von Pipelineöl- und Gas aus dem Putin-Reich sowie der milliardenteure Atom- und Kohleausstieg wurden von Konzernführern und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) widerspruchslos mitgetragen. Warum? Hier sollten ebenfalls Milliardensubventionen fließen, um den Energiepreisanstieg erträglicher zu gestalten. Doch das „Strompreispaket“, das Industrieunternehmen je nach Strombedarf in fünf Gruppen unterteilt und unterschiedlich stark „entlasten“ soll, ist nun unsicher geworden. Daher stellen nicht nur SPD-Sozialpolitiker, sondern auch das arbeitgeberfinanzierte Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) die Schuldenbremse in Frage.
Die Forderung Beibehaltung der beschlossenen Maßnahmen und weiteren Entlastungen unterstützt der BDI mit einem Standortgutachten zu den deutschen Industriestrompreisen im internationalen Vergleich. Die Studie „Transformationspfade für das Industrieland Deutschland“, die zusammen mit der Boston Consulting Group und dem IW erstellt wurde, erscheint passend zu den Hiobsbotschaften beispielsweise der Reifenindustrie (JF 50/23), die sich angesichts der explodierten Energiekosten schrittweise von ihren deutschen Produktionswerken trennt.
Oberflächlich und im Durchschnitt betrachtet hat sich seit 2019 der Energiepreis für viele Industrieunternehmen gar nicht so sehr verändert: Damals mußten Firmen im Schnitt 179 Euro pro Megawattstunde (MWh; das sind 11,5 Cent pro Kilowattstunde/kWh) bezahlen. 2023 waren es 190 Euro pro MWh – also nur nur sechs Prozent mehr. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn schon unter Angela Merkel gab es umfangreiche „Entlastungen“ – sprich: Firmen, die einen guten Draht zur Politik hatten und als „energieintensiv“ erklärt wurden, mußten einige der diversen Abgaben, Entgelte, Steuern und Umlagen nicht oder nur in geringem Maße tragen. Den Einnahmeausfall mußten die „gering entlasteten“ Firmen und die Privathaushalte tragen: 2019 lag der Haushaltsstrompreis laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) bei 30,46 Cent pro kWh, also umgerechnet der 304,60 Euro pro MWh – 70 Prozent über dem teuersten Firmenstrompreis.
Energiepolitische Schieflage im deutschen Strommarkt
2019 mußten „maximal entlastete“ Industriestromverbraucher hingegen nur 37 Euro pro MWh zahlen – nur ein Fünftel der „gering entlasteten“ Firmen oder ein Achtel des Haushaltsstrompreises. Natürlich erhalten Großkunden immer Rabatte, aber der internationale Vergleich zeigt, daß die Strompreisspanne nirgends so groß ist wie in Deutschland. Es ist auch keine EU-Schikane: In Spanien war und ist der Industriestrompreis nicht nur ein Drittel bis ein Viertel billiger, sondern auch die Preisspanne ist viel geringer. Noch viel größer ist der Kontrast zu den USA und China. Die MWh kostet einen in Amerika produzierenden Hersteller nicht 124 bis 190 Euro, sondern aktuell nur 15 bis 70 Euro, einen chinesischen Wettbewerber etwa 25 bis 85 Euro.
Zudem wird beim Strompreis zusätzlich getrickst: Die Umlage für die „Erneuerbaren Energien“ (zweistellige Milliardensubvention für Biogas-, Solar- und Windkraft) wird seit Juli 2022 vollständig vom Bund übernommen. Der refinanziert das via Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG), die teure „CO₂-Bepreisung“ von Benzin, Diesel, Gas und Heizöl. Das macht den Industrie- und Haushaltsstrompreis um etwa 60 Euro pro MWh billiger, dafür Heizen und Transport entsprechend teurer. Das ist zwar ungerecht und Wettbewerbsverzerrung, aber von der Industrie werden etwa 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet.
Am produzierenden Gewerbes und ihren Arbeitnehmern hängen statistisch zwei bis drei Arbeitsplätze pro Mitarbeiter in nachgelagerten Firmen. Zudem sind die dortigen Stellen vergleichsweise hoch entlohnt, sie zahlen überproportional stark in die Steuer- und Sozialversicherungskassen ein. Drohende Produktionsverlagerungen haben daher ungeahnte Folgen. Ziel des „Strompreispakets“ ist die Absenkung des deutschen Energiepreisniveaus von 190 auf 165 Euro pro MWh. Und wegen der Planungs- und Investitionssicherheit fordert der BDI in seinem Papier die Beibehaltung dieses Ziels – trotz der Haushaltszwangslage der Ampelregierung.
Verzicht auf staatliche Gebühren und Preismechanismen?
Auch bezüglich der Versorgungssicherheit sieht der BDI die energieintensiven – und auf Kosten anderer Marktteilnehmer bevorzugten – Unternehmen in ihrer Produktionsfähigkeit bedroht. Doch vom logischem Ausstieg aus dem deutschen Atom- und Kohleausstieg findet sich weder beim BDI noch beim IW ein Wort. Dafür beklagt man sich darüber, daß Unternehmen, die „abwerfbare Lasten“ (etwa Aluminiumschmelzen) bereitstellen, künftig kein Geld dafür zu bekommen sollen. Doch die so realisierte Netzstabilisierung bei Strommangelsituationen ist um so mehr notwendig, wenn mehr Solar- und Windstrom die Lücken von Atom, Gas und Kohle schließen sollen.
War diese Bereitschaft jahrzehntelang ein profitables Geschäft, das selten in Anspruch genommen worden ist, befürchten diese Industrieunternehmen zunehmend Opfer der angespannten Versorgungslagen bei Dunkelflauten zu werden. Das erschwert die Anwerbung internationaler Investitionen abseits stark subventionierter Leuchtturmprojekte wie dem Tesla-Werk in Grünheide oder den beiden Chipfabriken in Mitteldeutschland. Entsprechend fordert der BDI in seinem Energiepositionspapier weitere finanzielle Entlastungen für bisher wenig von den politischen Hilfestellungen profitierenden Unternehmen, die das Gros der industriellen Produktion in Deutschland ausmachen.
Dabei läßt der BDI interessanterweise offen, welchen Ausweg er der zerstrittenen Ampelkoalition zur Zielerreichung empfehlen würde. Neben einer Subventionierung und damit noch mehr Schuldenaufnahme könnte auch der Verzicht auf die vielen staatlichen Gebühren, Preismechanismen an der Leipziger Stromböse EEX, die CO₂-Bepreisung oder das Ende der teuren Förderung der „Erneuerbaren Energien“ die Strompreise senken. Doch wer soll dann beispielsweise den Netzausbau für die „erneuerbaren Energien“ und die angekündigte „Wasserstoffwirtschaft ohne Markt“ (JF 49/23) bezahlen? Gleichzeitig werden funktionierende AKW und Kohlekraftwerke, die jahrzehntelang preisgünstig Strom liefern könnten, mutwillig zerstört. Das würde Energiewende und Klimapolitik grundsätzlich in Frage stellen – doch solche ketzerischen Gedanken finden sich nicht im Positionspapier.
Auch für Privatverbraucher gibt es keine guten Nachrichten. Die staatlichen Gas- und Strompreisbremsen werden zum Jahresende eingestellt. Gleichzeitig werden Benzin, Diesel, Gas und Heizöl durch das Anziehen der BEHG-Schraube teurer. Und das trifft auch die Industrie. In China, den USA und den meisten Ländern der Welt gibt es all das nicht. Daher wird sich die Deindustrialisierung Deutschlands fortsetzen. Und der BDI wird künftig nicht mehr 100.000 Unternehmen mit ihren acht Millionen Beschäftigten vertreten.