© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Das Rechnen und das Lesen ist nie mein Sach’ gewesen
Pisa-Studie: Darüber, wer schuld ist an den schlechten Ergebnissen hierzulande, gehen die Meiungen auseinander
Peter Möller

Die Kurven zeigen nach unten, und der Pisa-Schock, der Deutschland erstmals Ende 2001 auf den Boden der bildungspolitischen Tatsachen gebracht hatte, ist wieder zurück. Damals wie heute lautet die Erkenntnis: Das deutsche Bildungssystem verliert international den Anschluß, der alte bundesrepublikanische Traum von der Bildungsrepublik, die ihre Rohstoffarmut durch ein exzellentes Schulsystem ausgleicht, hat tiefe Risse bekommen.

„Verfehlte linksideologische Bildungs- und Migrationspolitik“

Nach den in der vergangenen Woche veröffentlichten neuesten Pisa-Ergebnissen (JF 50/23) liegt Deutschland nur noch in den Naturwissenschaften deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Staaten (492 zu 485 Punkten). In Mathematik (475 zu 472 Punkten) und Lesen (480 zu 476 Punkten) entsprechen die Ergebnisse jetzt dem OECD-Durchschnitt, der auf beiden Gebieten ebenfalls gesunken ist. In Deutschland sind die Leistungen in diesen beiden Fächern damit auf einen historischen Tiefstand gefallen. Ein kleiner Trost bleibt: Zwischen 2018 und 2022 konnten nur sehr wenige OECD-Staaten Teile ihrer Ergebnisse verbessern, etwa Japan, Italien, Irland und Lettland in den Naturwissenschaften.

Für die rund zweistündigen Tests im Frühjahr 2022 wurden hierzulande rund 6.100 repräsentativ ausgewählte Schüler an rund 260 Schulen aller Schularten getestet. Sie wurden zudem zu ihren Lernbedingungen und Einstellungen sowie ihrer sozialen Herkunft befragt. Schulleiter, Lehrer und Eltern beantworteten Fragen zu Gestaltung und Ressourcen des Unterrichts sowie zur Rolle des Lernens in der Familie. Weltweit nahmen etwa 690.000 Schüler aus 81 Ländern an der Pisa-Studie teil.

Politik und Bildungsverbände reagierten mehrheitlich geschockt auf die neue Hiobsbotschaft von der Bildungsfront, zumeist verbunden mit der Forderung, mehr Geld in die Bildung zu investieren.

Der Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bundestages, Kai Gehring (Grüne), forderte eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) der Regierungschefs der Länder. „Die schlechtesten Bildungsergebnisse seit 23 Jahren sind mehr als ein weiteres Alarmzeichen: Sie markieren einen maximal dringenden Handlungsbedarf“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. „Angesichts der Pisa-Diagnose, des Sanierungsstaus an unseren Schulen in hoher zweistelliger Milliardenhöhe und des eklatanten Lehrkräftemangels muß jetzt eine Sonder-MPK stattfinden. Diese könnte gut vorbereitet im ersten Quartal 2024 angesetzt werden.“ Bildung brauche höchste Priorität und stehe in gesamtstaatlicher Verantwortung, „weil sie das Fundament für unseren Wirtschafts- und Innovationsstandort sowie zur Fachkräftesicherung legt“, sagte Gehring. Und an die Länder gerichtet forderte er, die „Bildungskrise nicht weiter auszusitzen“, ansonsten sei ihre Kultushoheit und Prioritätensetzung „mehr als zweifelhaft“.

Einen anderen Schwerpunkt setzte die AfD, die den Blick auf den stark gestiegenen Anteil von Ausländern an den deutschen Schulen zur Erklärung der schlechten Pisa-Ergebnisse lenkte. Der schulpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Götz Frömming, forderte eine 180-Grad-Wende in der Bildungspolitik. „Die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie sind das Ergebnis einer vollkommen verfehlten linksideologisch geprägten Bildungs- und Migrationspolitik“, sagte er. „Statt Multikulti, Gleichmacherei und sinnentleerter Kompetenzen müssen wieder klassische Bildung, Wissen, Leistung und Disziplin Einzug in unseren Schulen halten.“ Ohne eine Beendigung des permanenten Zustroms von Migranten aus bildungsfernen Milieus seien aber alle Anstrengungen vergeblich. 

Im Durchschnitt haben der Pisa-Studie zufolge Schüler ohne Migrationshintergrund in Mathematik einen Leistungsvorsprung von 59 Punkten gegenüber Schülern mit Migrationshintergrund. Werden sozioökonomische Unstände zusätzlich berücksichtigt, beträgt dieser Vorsprung immer noch 32 Punkte. Bei der Lesekompetenz liegen Schüler ohne Migrationshintergrund durchschnittlich 67 Punkte vor den Schülern mit Migrationshintergrund; sozioökonomisch bereinigt sind es 40 Punkte. 

Der Lehrermangel muß dringend behoben werden

Auch die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), verwies unter anderem auf die Heterogenität der Schülerschaft als Erklärung für das schlechte Abschneiden. Ein Drittel der Schüler hätte Deutsch nicht als Muttersprache, verdeutlichte sie. 

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll, verwies im Deutschlandfunk ebenfalls darauf, daß viele Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern große Sprachbarrieren hätten. Diese Schüler müßten individuell gefördert werden. Hier gebe es aber nicht ausreichend Personal. Das müsse sich dringend ändern. Allerdings gaben der Studie zufolge 38 Prozent der befragten Schüler an, sie würden der Lehrkraft nicht zuhören. Ob mehr Pädagogen da Abhilfe schaffen würden?

Unterdessen forderte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken vor dem Hintergrund der Pisa-Ergebnisse einen „Deutschlandpakt“ für Bildung. Damit wolle die SPD dafür sorgen, „daß Bildungsnachteile so früh wie möglich ausgeglichen werden, daß in den Grundschulen die Basiskompetenzen verläßlich erworben werden und daß alle Jugendlichen mit einem qualifizierten Schulabschluß einen gesicherten Übergang ins berufliche Leben auch finden können“.

Einigkeit scheint parteiübergreifend darüber zu herrschen, daß die Pisa-Leistungen langfristig nur durch eine Behebung des Lehrermangels an deutschen Schulen zu verbessern sind. Nach aktuellen Zahlen der Kultusminister werden durch die bevorstehende Pensionswelle bis 2035 fast 70.000 Pädagogen in Deutschland fehlen. Zugleich steigt der Anteil von sogenannten Quereinsteigern in den Lehrerberuf seit Jahren.