© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

„Betreutes Denken statt Bildung“
Interview: Die neuen Pisa-Ergebnisse sind ein Desaster. Bildungsexperte Hans Peter Klein analysiert die Ursachen
Moritz Schwarz

Herr Professor Klein, können Sie den Begriff Pisa eigentlich noch hören?

Hans Peter Klein: Mir bleibt als langjähriger Beobachter des Bildungswesens nichts anderes übrig. Aber ja, es ist schon deprimierend, denn es geht nur noch in eine Richtung: abwärts. Vor allem die Entwicklung seit 2015 ist besorgniserregend. 

Hat der seitdem ungeregelte Zustrom an Einwanderern damit zu tun?

Klein: Schon in der Pisa-Studie von 2015 war ein deutlicher Rückgang der Leistungen zu verzeichnen. Und da die Erhebung in der Regel ein Jahr vorher durchgeführt wird, kommen die Ereignisse des Jahres 2015 als Ursache nicht in Frage. 

Allerdings sind die Ergebnisse der folgenden Pisa-Tests von 2018 und 2022 noch viel schlechter ausgefallen. 

Klein: In der Tat ist die Zunahme des Abwärts-trends in allen drei Pisa-Bereichen – Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften – erheblich. Und bis 2022 hat sich der Migrantenanteil binnen zehn Jahren ungefähr verdoppelt. Das wäre grundsätzlich nicht schlimm, würde es sich vor allem um Fachkräfte handeln. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall – und da liegt das Problem.

Sie meinen, daß stattdessen bildungsferne Schichten  vor allem aus dem arabisch-islamischen Raum kommen?

Klein: Genau, doch viele trauen sich nicht, dieses schwerwiegende Problem zu benennen, und so wird es leider oft unter den Teppich gekehrt. Folge: Besonders an Grundschulen herrscht inzwischen eine Art Superdiversität, die von dort in die nachfolgenden Schulformen wandert und der mit pädagogischen Maßnahmen kaum noch beizukommen ist. 

Warum nicht?

Klein: Nun, daß diese extreme Heterogenität in Sachen Lernvoraussetzungen pädagogisch so gut wie nicht in den Griff zu bekommen ist, zeigt eben daß in allen Kompetenzbereichen die Ergebnisse mehr oder weniger stark rückläufig sind. Das heißt, auch leistungsstarke Schüler können nicht mehr gemäß ihrem Potential gefördert werden. Offenbar kommen Lehrerinnen und Lehrer an die Grenze des Machbaren. Schule ist eben nicht der Reparaturbetrieb für politische Fehlentwicklungen. Sie wurde geschaffen, um Bildung und Wissen zu vermitteln – davon aber ist sie aktuell meilenweit entfernt.

Allerdings sind nicht alle Schulen Brennpunktschulen. Gibt es also nicht große Unterschiede?

Klein: Aber natürlich, es liegt auf der Hand, daß der Stadtteil, in dem Sie wohnen, entscheidend für den Bildungserfolg Ihres Kindes ist. So haben Grundschulen oder Gymnasien etwa bei uns in Köln-Lindenthal, aber auch im Frankfurter Westend oder in Hamburg-Blankenese einen Migrantenanteil von teilweise deutlich unter zwanzig Prozent. Im Gegensatz dazu beträgt er auf der anderen Rheinseite in Köln-Kalk oder -Mülheim selbst in Gymnasien 75 Prozent und mehr – von Grundschulen zum Beispiel in Offenbach bei Frankfurt ganz zu schweigen.  

Gibt es nicht Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken?

Klein: Nein, eben nicht, Sie können in einer Demokratie nicht per Zwang Bevölkerungsanteile durchmischen. All das war aber, auch mit Blick auf die Banlieues französischer Großstädte, seit langem abzusehen. Es zeugt also von einem nicht zu übersehenden Maß an Heuchelei, wenn Politik und Medien sich nun überrascht geben. Zumal die Befürworter ungehinderter Migration meist in bevorzugten teuren Stadtteilen wohnen und ihre Kinder zunehmend auf Waldorf- und andere Privatschulen schicken. 

Allerdings ist doch nicht nur die Einwanderung schuld an den Resultaten. Spielt nicht auch Corona eine Rolle?

Klein: 2018 gab es noch keine Pandemie, also kann sie auch nicht für den starken Rückgang verantwortlich sein. 2022 sieht es natürlich anders aus: Die völlig unnötigen Schulschließungen der zumindest hier völlig verfehlten deutschen Corona-Politik bilden sich daher, wenn auch in einer nicht genau zu beziffernden Größenordnung, auch ab. 

Sind denn alle Länder 2022 so stark abgesackt?

Klein: Eben nicht, viele haben ihren Pisa-Wert sogar verbessert, waren aber auch von Schulschließungen und mehr oder weniger digitalem Fernunterricht nicht so stark betroffen.

Könnte man denn, um für entsprechende Ereignisse gewappnet zu sein, nicht einfach professionalisieren?

Klein: Im Gegenteil, eine Lehre der Corona-Erfahrung für das Bildungswesen lautet, daß entpersonalisierte Bildung nichts anderes ist als die „Praxis der Unbildung“, um es mit den Worten des Philosophen Konrad Liessmann auf den Punkt zu bringen! Die Schule wurde geschaffen, um gemeinsam zu lernen und sowohl kognitive als auch affektive und soziale Lernziele zu erreichen. Einer Individualisierung der Bildung – in der viele selbsternannte Reformer den einzigen Weg zur Besserung sehen – wurde schon 2009 in der Hattie-Studie, die rund 50.000 Einzelstudien ausgewertet hat, wegen nur geringer Effekte eine klare Absage erteilt. 

Tatsächlich gelten Sie als Kritiker der Pisa-Studien an sich. Was haben Sie an diesen auszusetzen?

Klein: Erstens wird sozusagen vom vielen Wiegen die Sau nicht fetter – sonst müßten wir solche Ergebnisse gar nicht beklagen. Das deutsche Schulwesen ist seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 von einer Flut an Testverfahren überzogen worden – wie etwa die VERA- und die IGLU-Studien oder der IQB-Bildungstrend etc. zeigen –, was aber zu keinerlei Verbesserung der Leistungen geführt hat. Genau das aber hat die empirische Bildungsforschung mit ihrem Bildungsmonitoring den Politikern ins Ohr gesäuselt! Zweitens beinhalten die verwendeten Pisa-Ranking-Tabellen Zahlen, von denen außer den „Pisanern“ keiner genau versteht, was sich hinter ihnen verbirgt. Oder wissen Sie etwa was die Werte 493 oder 512 genau bedeuten und um wie viele richtig beantwortete Fragen sich die Probanden aus den Ländern mit diesen zwei unterschiedlichen Werten unterscheiden?

Natürlich wollte ich Sie genau das gerade fragen ...

Klein: Keine Sorge, das können Sie auch gar nicht wissen, weil Sie die statistischen Verfahren dahinter nicht nachvollziehen können, da diese nicht komplett veröffentlicht werden. Zum Vergleich: Jeder Fußballfreund kann in der Bundesligatabelle den Platz seines Vereins gemäß erreichter Punktzahl ablesen. Und er kann anhand weiterer Faktoren – gespielte Spiele, Tordifferenz, Siege, Unentschieden, Niederlagen – genau nachvollziehen, wie der Tabellenplatz zustande gekommen ist. Genau das aber ist bei den Pisa-Rankings nicht möglich. Natürlich können die Pisaner mit solchen Rankings vor allem die Bildungspolitiker bluffen, denen es letztlich ja nur darum geht, einen besseren Platz zu erreichen: Eine Aufwärtsentwicklung von 493 auf 512 Punkte ließe im Bundesministerium für Bildung und Forschung die Sektkorken knallen! Zudem lassen sich Skalen strecken – das macht Eindruck und spült mehr Geld in die Kassen der Tester.

Sie lehnen solche Rankings grundsätzlich ab?

Klein: Betrachten wir mal das zentrale Pisa-Ergebnis – das haben Lehrerinnen und Lehrer doch schon seit Jahren festgestellt, und sie haben auch immer wieder deshalb gewarnt! Aber man hört ja nicht auf sie. Im angloamerikanischen Raum wird schon seit den Siebzigern vor allem in den US-Bundesstaaten, aber auch USA-weit getestet und alles in Rankings abgebildet. In Princeton ist sogar ETS, die weltweit größte Testfirma beheimatet, die auch an PISA beteiligt ist. Die Amerikaner als eine leistungsbezogene Nation lieben Rankings. Doch auch hier geht es nur darum, vordere Plätze zu erreichen, um an Geld zu kommen. Ende der 2010er Jahre wurde das auf die Spitze getrieben, als etwa in Atlanta Lehrer für ihre Schüler die Tests ausfüllten, um besser abzuschneiden. Schließlich stellte sich heraus, daß nahezu alle Bundesstaaten mit gezinkten Karten spielten. 

Sie kritisieren auch, die Pisa-Studien besäßen keine „Curriculare Validität“ – was bitte ist das?

Klein: Das bedeutet, daß sie die nationalen Curricula, also die Lehrpläne, nicht berücksichtigen – und auch nicht berücksichtigen können, weil diese in den Teilnehmer-Staaten nicht einheitlich sind! Daher wurde mit Pisa 2000 ein kompetenzorientiertes rudimentäres Bildungskonzept eingeführt, das darin besteht, daß für die Lösung der Aufgaben kaum noch Vorwissen nötig ist. Stattdessen sollen per Lesekompetenz aus Texten und Grafiken Sachverhalte entsprechend der Fragestellung herausgearbeitet werden. Und aus testökonomischen Gründen sind etwa siebzig Prozent der Aufgaben durch das Ankreuzen vorgegebener Lösungsmöglichkeiten zu beantworten. Bei jeweils vier möglichen Antworten liegen sie mit einer 25prozentigen, bei nur zwei mit einer 50prozentigen Wahrscheinlichkeit richtig – ohne sich überhaupt mit dem Text befaßt haben zu müssen! Wenn Sie zusätzlich die Ausschlußmethode nach dem Vorbild der TV-Rateshow „Wer wird Millionär?“ anwenden sowie im „Teaching to the test“-Verfahren auf diese Aufgabenstellungen regelrecht dressiert werden, können Sie eigentlich wenig falsch machen. Doch aus dem Ankreuzen eines Kästchens auf Verständnis und Wissen rückzuschließen ist mehr als gewagt! Zudem müssen die Schüler ihre Entscheidung wie Börsenmakler treffen, denn ihnen stehen pro Aufgabe nur etwa zwei Minuten zur Verfügung. Im Klartext: mit Bildung und Wissen hat all das kaum etwas zu tun. 

Lesekompetenz ist allerdings die Grundlage für jede Weiterbildung. Sehen Sie das also nicht zu kritisch?

Klein: Man kann das gar nicht kritisch genug sehen! Zumal das Konzept 2003 auf Grundlage der von der Bundesregierung nach Pisa 2000 in Auftrag gegebenen Klieme-Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ an den Schulen in Form kompetenzorientierter Bildungsstandards eingeführt worden ist.

Was bedeutet das für den Unterricht und das Abitur?

Klein: Nichts Gutes im Sinne der Vermittlung von Bildung und Wissen. Selbst Abituraufgaben sind inzwischen nach dem Muster von Pisa-Tests gestrickt, nur umfangreicher.

Zum Beispiel?

Klein: 2010 ließen wir eine 9. Klasse die Abiturprüfung für den Leistungskurs Biologie des Landes NRW bearbeiten. Dabei kannten die Schüler weder das Thema, noch hatten sie entsprechendes Fachwissen. Sie wurden nur darauf hingewiesen, durch aufmerksames Lesen nahezu alle Antworten im Text finden zu können. Das Ergebnis sorgte nach einem Bericht in der FAZ bundesweit für Aufsehen, denn außer vier hatten alle übrigen der 27 Schüler die Leistungskursaufgabe mehr oder weniger gut gelöst!

Sie sind auch auf gravierende fachliche Fehler gestoßen.

Klein: Ja, wir haben über hundert Abituraufgaben aus fast allen Bundesländern auf ihren fachlichen Anspruch untersucht, wobei sich extreme Beispiele fanden. In Hamburg etwa wurde Schülern eine Aufgabe zum Verhältnis von Miesmuscheln und eingewanderten vorgelegt, bei denen die Schüler die Verdrängung der Miesmuschel durch die Pazifische Auster per Lesekompetenz erarbeiten und die im Text zu findenden Vorschläge zur Bekämpfung letzterer bewerten sollten. Allerdings mußten wir entdecken, daß es in der Aufgabenstellung nur so von falschen Fakten wimmelte – selbst die zentralen Aussagen der Aufgabe waren sachlich falsch! 

Wie bitte? Das muß doch jemandem im Kultusministerium aufgefallen sein.

Klein: Ganz und gar nicht, denn in den Bildungsministerien sind fachkompetente Mitarbeiter Mangelware – dafür gibt es dort um so mehr Kompetenzgurus. Ein Ministeriumsmitarbeiter wies mich sogar allen Ernstes darauf hin, daß ich den Sinn der Kompetenzorientierung noch immer nicht verstanden hätte. Schließlich käme es nicht auf die fachliche Richtigkeit der Sachaussagen in den Aufgaben an, sondern auf ihre kompetenzorientierte Lösung – und der Kompetenzbereich heiße schließlich „Umgang mit Fachwissen“! Also quasi eine Art betreutes Denken, bei dem es darum geht, nachzubeten, was „Auserwählte“, die über das „richtige“ Wissen in ihrem Sinne verfügen, vorgeben – selbst denken verboten! Bürger, die nur über „gefühltes Wissen“ verfügen, sind eben leichter mit Worten zu manipulieren.

Gibt es so etwa auch in anderen Fächern?

Klein: Ja, in Mathematik ist es sogar besonders schlimm. Rechenfertigkeiten übernimmt da meist der grafikfähige Taschenrechner, während es in erster Linie darauf ankommt, den teilweise verschwurbelten Text zu entkleiden. Übrigens zum erheblichen Nachteil der Migrantenkinder, die vielleicht die Rechenaufgaben zumindest teilweise lösen könnten, aber den Text nicht verstehen.

Wohin führt diese Entwicklung?

Klein: Die Folgen sind, vor allem im Fach Mathematik, für die Hochschulen fatal. Deshalb verdonnern die Länder diese dazu, Erstsemestern Nachhilfekurse in allen MINT-Fächern, teils auf unterem Mittelstufeniveau, anzubieten, um die Durchfall- und Abbruchquote erträglich zu halten. Im Klartext: Wir sind in Deutschland nicht mehr in der Lage, die für die erfolgreiche Ausbildung unserer Kinder notwendigen Grundlagen bereitzustellen! Nach zwanzig Jahren verfehlter „Kompetenzorientierung“ an den Schulen ist es daher höchste Zeit, sich von diesem Unbildungskonzept zu verabschieden – und von Pisa gleich mit!






Prof. Dr. Hans Peter Klein, ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften und war von 2001 bis 2018 Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls an der Goethe-Universität Frankfurt. Außerdem gehört er dem Gründungsvorstand der Gesellschaft für Bildung und Wissen an. Zuvor lehrte er in Köln, Koblenz und den USA. Mit Gastbeiträgen und Interviews meldet sich der Zellbiologe öffentlich immer wieder zu Wort, etwa in der FAZ, Zeit, Welt, NZZ oder im Deutschlandfunk. Dem Thema Pisa und Bildungskrise widmete er sich auch in seinen Büchern „Abitur und Bachelor für alle. Wie ein Land seine Zukunft verspielt“ (2019) und „Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel“ (2016). Geboren wurde er 1951 in Sinzig am Rhein.