Aus welcher Perspektive Christina Morina ihr Buch „Tausend Aufbrüche“ schreibt, macht sie gleich zu Beginn deutlich: Die Revolution von 1989 habe in einem Landstrich stattgefunden, in dem nun „ausgerechnet die in Teilen rechtsradikale“ AfD stark geworden sei, wundert sie sich eingangs und fragt: „Was verbindet diese beiden historischen Entwicklungen?“ Damit ist ihr eigentliches Movens bereits umrissen: Die in Frankfurt an der Oder geborene Professorin will einen Beitrag zur anhaltenden AfD- und Ostdebatte leisten.
Konkret zeichnet die Autorin, die derzeit an der Universität Bielefeld lehrt, die Geschichte der „Deutschen und ihrer Demokratie seit den 1980er Jahren“ nach. Dabei will sie im Sinne einer „politischen Kulturgeschichte ‘von unten’“ in die Breite der Bevölkerung blicken und letztlich verallgemeinernde Aussagen über das Demokratie- und Bürgerverständnis der Deutschen treffen – und zwar in Ost wie in West, sowohl vor als auch nach dem Fall der Mauer. Die drei wesentlichen Kapitel drehen sich in chronologischer Folge zunächst um die Zeit vor der Revolution in der DDR, dann um die Zeit der Revolution selbst und schließlich um die Zeit unmittelbar danach. Am Ende schließt noch ein Kapitel an, in dem Morina um Angela Merkel und die AfD kreist. Als Quellen hat sie etwa Bürgerbriefe an den Bundespräsidenten oder Bürgerpost an die SED-Führung in der DDR unter die Lupe genommen. Das ist ein interessanter Ansatz, der allerdings methodische Probleme mit sich bringt.Letztlich ist vieles von dem, was Morina aus der Bürgerpost zitiert, jeweils nur ein einzelnes Schlaglicht auf das Selbstverständnis einer elitären Gruppe, denn der Durchschnittsbürger schreibt sicher nicht an den Bundespräsidenten. Morina spricht dieses Problem zwar selbst an. Sie tut es aber so, als könne man über diese Quellen einen Blick auf die Gesellschaft insgesamt erhaschen, wenn sie etwa allzu emphatisch behauptet, in den Bürgerbriefen würde sich „eine Gesellschaft miteinander und über sich“ verständigen.
Methodisch problematisch ist auch das Ausgreifen bis in die Gegenwart. Offenbar wollte Morina unbedingt etwas zur AfD und zu Merkel schreiben, um die Gegenwartsrelevanz ihrer Arbeit zu demonstrieren. Für das entsprechende Kapitel konnte sie aber nicht auf eine ähnliche Quellengrundlage zurückgreifen wie für die anderen Teile des Buches. Entsprechend verliert sie sich hier völlig in allgemeinen Ausführungen und vagen politologischen Deutungsversuchen, deren Sinn sich nicht erschließt. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist das unsauber.
Morinas einziger originärer Denkanstoß ist ihre These, daß für die Zeit vor 1990 nicht nur eine Demokratiegeschichte der Bundesrepublik wahrgenommen und die DDR gleichzeitig auf eine Diktaturgeschichte reduziert werden sollte. Vielmehr sei auch die Geschichte der DDR als „Demokratieanspruchsgeschichte“ zu verstehen. Damit meint Morina nicht einen echten demokratischen Anspruch der SED-Führung: Glücklicherweise spricht sie an, daß dieser nur „simulativ“ war. Der Autorin geht es vielmehr darum, zu zeigen, daß DDR-Bürger in den 1980er Jahren um ihre demokratische Mündigkeit rangen und sich an den Demokratieversprechen der SED abarbeiteten. Diese hätten demnach real in die Bürgerschaft hineingewirkt, die Gesellschaft sei keineswegs „stillgelegt“ gewesen.
Das ist eine bedenkenswerte These, die das Verständnis dafür fördern kann, daß die DDR-Bürger auch demokratiepolitisch eben kein unbeschriebenes Blatt waren, als sie ins vereinte Deutschland gingen. Wo Morina dann allerdings konkrete Verbindungen herzustellen versucht, wird es fragwürdig. So behauptet sie etwa, direktdemokratische Wünsche im Osten resultierten aus dem „‘volksdemokratischen’ Urversprechen“ der DDR. Richtig argumentiert sie ihre These aber nicht; sie bleibt hier auf essayistischem Niveau. Problematisch ist auch, daß vor lauter Emphase für die These der „Demokratieanspruchsgeschichte“ Anpassungsdynamiken von DDR-Bürgern unter den Tisch fallen.
Insgesamt stellt Morina für den Untersuchungszeitraum sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede im Demokratieverständnis von Ost- und Westdeutschen fest. So fördert sie etwa im Osten in der Wende- und Nachwendezeit ein größeres Harmoniebedürfnis und ein erhebliches Mißtrauen gegen Parteien und Parlamente zutage. Widersprüchlich äußert sie sich indes zu den bereits angesprochenen direkt- beziehungsweise basisdemokratischen Ansprüchen, die sie einerseits als spezifisch ostdeutsch klassifiziert, während sie andererseits richtigerweise auf deren Existenz auch in der Bonner Republik hinweist. Nicht nur an dieser Stelle wirft das Buch mehr Fragen auf, als es beantwortet. Es ist insgesamt ein Werk, das zwar einen interessanten Ansatz wählt, aber in der Umsetzung wenig überzeugt.
Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren. Siedler Verlag, München 2023, gebunden, 400 Seiten, 28 Euro