© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/23 / 08. Dezember 2023

Der geborene und der gelernte Kommunist
Stalinistische Literaten im Kalten Krieg: Zum Briefwechsel zwischen den Freunden Peter Hacks und André Müller sen.
Wolfgang Müller

Ein passenderes Datum hätte sich Peter Hacks, „Dichter und Kommunist“, wie es in der Einladung zur Trauerfeier im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt lakonisch hieß, nicht wählen können, um mit 75 Jahren diese Erde zu verlassen: den 28. August 2003, den 254. Geburtstag seines Hausheiligen Johann Wolfgang von Goethe.

Zwanzig Jahre später verstand es sich für den Berliner Eulenspiegel Verlag daher von selbst,  pünktlich zu diesem Todestag die lange erwartete Edition des „Briefromans“ zwischen Hacks, dem modernen Klassiker und Zugpferd seines Programms, und dessen „Eckermann“ André Müller sen. (1925–2021) zu präsentieren. Ein Ziegelstein von einem Buch, fast 1.300 Seiten dick, das den Inhalt von 942 Briefen und Karten dokumentiert, die die beiden Urfreunde zwischen 1957 und 2003 wechselten. 

Mit dieser üppigen Korrespondenz, die hin und her geht zwischen Köln und Berlin, „Hauptstadt der DDR“, zwischen dem in den überschaubaren kulturpolitischen Netzwerken der DKP-Sekte beheimateten Schriftsteller der eher dritten Garnitur und dem mit  „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“ (1974) in die Sphäre des Weltruhms vorgestoßenen Nationalpreisträger der DDR, liegt eine erstrangige Quelle zur eng verzahnten deutsch-deutschen Literatur- und Realgeschichte während des Kalten Krieges vor.   

Unterschiedlicher können Briefpartner nicht sein: Hier der dem linksgeknöpften Breslauer Bildungsbürgertum entstammende Hacks, ein gelernter, kein geborener Kommunist wie Müller. Hatte sich Hacks erst nach der germanistischen Promotion die theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus autodidaktisch angeeignet, jenes Weltbildes, das ihn 1956 inspirierte, von München nach Ost-Berlin zu „emigrieren“, prägte den drei Jahre älteren Müller, aufgewachsen im proletarischen Milieu Kölns, wo der Vater als lokale KPD-Größe agierte, von klein auf der Alltag des „Klassenkampfes“.

Ihre Freundschaft gründete auf ideologischen Positionen

Warum der grazile Ästhet Hacks sich seit den 1970ern sukzessive als stalinistischer Beton-Kommunist aufführte, der alle polemischen Register zog, um Front zu machen gegen die zwischen Fisch und Fleisch schwankende Dissidenten-Szene der „Kulturschaffenden“ des SED-Staates? Darauf gibt auch diese Jahrzehnte währende, selten langweilende Korrespondenz keine psychologisch befriedigende Antwort.

Warum hingegen der Tischler Willi Fetz, der nach 1945 das Pseudonym André Müller sen. wählte, sich fast zwangsläufig zum unerschütterlich moskauhörigen Fundamentalisten entwickelte, darüber schafft seine knappe Vita im Nachwort der Herausgeber fleckenlose Klarheit: 1933 verschwand sein Vater im Konzentrationslager, während die Mutter, eine Jüdin, mit ihrem Sohn und zwei Töchtern ständig die Deportation fürchtend, in den letzten Kriegsmonaten nur im Untergrund überlebte.

Fetz’ Vater, gepreßt zur SS-Strafeinheit Dirlewanger, desertierte zur gleichen Zeit zur Roten Armee. Ein glückliches Wiedersehen mit der Familie fiel für ihn indes aus. Die Ehe war seit 1939 geschieden, wohl auf Druck der SS, die den von ihr seelisch gebrochenen Fetz als Lagerältesten und Leiter des Erhängungskommandos im KZ Neuengamme einsetzte. Funktionen, von denen die sowjetische Besatzungsmacht erfuhr, die ihn deswegen zum Tode verurteilte und hinrichtete. Eine Familiengeschichte, wie sie das Leben im Weltbürgerkrieg schrieb. Der davon geformte Fetz junior zog daraus im Juni 1945 die Lehre, der KPD beizutreten. Und sich für diese, nach Verbotsjahren 1968 als DKP wieder auferstandene Kleinpartei noch lange über den Mauerfall hinaus zu engagieren. 

Ein Text, der solche Nibelungentreue autobiographisch herleitet, findet sich nicht in einem Brief an Hacks, sondern im lobenswert ausführlichen Kommentarteil. Dort, in einem Schreiben vom Januar 1991, kanzelt Müller die „werte Genossin“ Ditte Gerns, die Tochter des Bremer DKP-Theoretikers Willi Gerns, für die in ihrer Doktorarbeit über die „Nationalitätenpolitik der Bolschewiki“ (1988) formulierte harsche Stalin-Kritik ab. Vor dem Hintergrund von Gorbatschows Perestroika-Kurs begibt sich Gerns aufs Tapet kontrafaktischer Geschichtsschreibung und behauptet kühn, daß Lenin, wäre er nicht 1924 gestorben, die Weichen in Richtung auf einen „demokratischen Marxismus“ gestellt hätte, wie er sich unter Gorbatschow nun endlich herausbilde. Stalins Diktatur, das Gulag-System und Millionen von Toten wären der Sowjetunion erspart geblieben. 

Für Müller manifestierte sich in solchen Hypothesen nur die „schwachsinnige zeitgenössische Borniertheit einer kommunistischen Linken post festum“. Denn jener „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie er seit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ (1968) im bröckelnden Ostblock wieder als „romantische Idee“ durch die Reihen Systemoppositioneller geisterte, wäre nach der Oktoberrevolution rasch der geballten militärisch-ökonomischen Macht der von der kapitalistischen Internationale alimentierten „weißen“ Konterrevolution erlegen gewesen. Nur Stalins gegen Lenins und Trotzkis Utopie „Weltrevolution“ durchgefochtene nationalbolschewistische Strategie, alle Kräfte für die Diktatur des Proletariats zu bündeln, um die „Revolution in einem Land“ zu sichern, habe die junge Sowjetunion nicht „demokratisch sterben“ lassen. Ohne Stalins Industrialisierungs- und Rüstungspolitik und deren zuzugebende „barbarische Folgen“ hätte es „keine T-34 gegeben, die Hitler hätten besiegen können, und ich wäre in einem faschistischen KZ verreckt“. 

Lobeshymnen auf Sahra Wagenknecht

Kürzer ist nicht zu entschlüsseln, warum Müller und – ohne vergleichbar drastische NS-Horrorerfahrung – Hacks früh die ideologischen Positionen bezogen, auf denen ihre Freundschaft gründet, die sie in Hekatomben politischer Kommentare dieses Briefwechsels explizieren und mit denen sich vor allem der Honecker- und Gorbatschow-Hasser Hacks ins seit 1990 gesamtdeutsche gesellschaftliche Abseits manövriert. Das war der Preis, den beide einem fundamentalistischen Marxismus-Leninismus dafür entrichteten, daß er ihnen ein emotionale Sicherheit, Lebenssinn und Zukunftshoffnung vermittelndes Weltbild von gußeiserner Einfachheit schenkte, das rigoros zwischen Entweder-Oder, Gut und Böse, Freund und Feind unterschied. Und das sie das „Gesetz der Geschichte“ lehrte, gegen dessen Vollstreckung durch die immer recht habende Partei, mit allen „unerbittlichen und grausamen Konsequenzen“, Tscheka und Massenmord inklusive, Einsprüche im Namen kleinbürgerlicher Moral nur lächerlich sind. Hacks versteigt sich daher zur ungeheuerlichen These, erst die durch Gorbatschow herbeigeführte Niederlage des Sozialismus habe die Massenrepressionen während der „Großen Säuberung“ von 1937/39 zu wirklichen Verbrechen umgedeutet: „Stalin hat getötet“, aber „Gorbatschow hat nachträglich Morde daraus gemacht“.

Diese manichäische Deformierung des Denkens und des Charakters, wie sie sich hier an zwei im übrigen außergewöhnlich sympathischen, hochgebildeten, traditionsbewußten, hart in der Sache, aber stets milde und witzig im Ton argumentierenden linken Intellektuellen offenbart, gehört als Spezifikum des totalitären Zeitalters nicht der Vergangenheit an. Wie Millionen, der „dritten totalitären Versuchung“ (Ernst Nolte) erlegene, vom Kalifat träumende Muslime in Europas Metropolen derzeit mit steinzeitlichem Ingrimm „demonstrieren“. Diese epische Edition bietet also nicht nur einen enormen literaturgeschichtlichen Mehrwert, sondern auch einen großen, zeitdiagnostisch aktualisierbaren Erkenntnisgewinn.     

In der kapitalistischen Nacht, in die sich die beiden alten weißen Männer mit der Wiedervereinigung gestoßen sehen, leuchtet ihnen ein Licht: die als Wiedergängerin Rosa Luxemburgs begrüßte Jungstalinistin Sahra Wagenknecht. Mit ihrer stupenden Belesenheit – Kant, Hegel, Goethe, Marx, Lenin („in vierzig Bänden“) – und ihrer analytischen Intelligenz („Maschinengehirn“) entlockt sie sogar dem geölten Lästermaul Hacks, der hier 1991 einen Hans Magnus Enzensberger so en passant wie zielsicher als „greise 5-Mark-Hure des Imperialismus“ abtut, Lobeshymnen auf diesen „einzigen theoretischen Kopf, den die Kommunisten haben“. Der vereinsamende Dramatiker akzeptiert sie erstaunlich lange als seine „echte Schülerin“, bevor er ihr als Scheidegruß attestiert, „ins Reformistische“ abzurutschen. 

Peter Hacks / André Müller sen.: Der Briefwechsel 1957–2003. Herausgegeben von Heinz Hamm und Kai Köhler, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2023, gebunden, 1.280 Seiten, 58 Euro