Jüngster Fall von Cancel Culture: Das Theater in Aachen hat eine Bronzebüste des österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan (1908–1989) aus dem Foyer des Hauses entfernt. Die Gründe dafür seien „neueste Forschungsergebnisse“ und der Vortrag eines Karajan-Biographen an der städtischen Volkshochschule, die deutlich aufgezeigt hätten, „daß Herbert von Karajan in der NS-Zeit kein unbeschriebenes Blatt war“, teilte Generalintendantin Elena Tzavara am Mittwoch voriger Woche mit. Die 46jährige gelernte Opernregisseurin leitete zuvor die Kinderoper Köln und die Junge Oper Stuttgart. Nun hat sie sich einen Namen als Bilderstürmerin gemacht. Karajan zählt international zu den bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Hinlänglich seit vielen Jahren bekannt ist, daß er bereits 1933 der NSDAP beitrat. Zu Beginn seiner Karriere war er von 1935 bis 1942 Generalmusikdirektor in Aachen. Nach dem Krieg wurde er Mitte der fünfziger Jahre Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Notabene: Die angeblich „neuesten Forschungsergebnisse“ hat der Karajan-Biograph Klaus Riehle, auf den sich die Aachener Intendantin beruft – schon 2017 veröffentlicht. Wie Elena Tzavara jetzt dazu kommt, kalten Kaffee aufzuwärmen, bleibt ihr Geheimnis.
Vor fünfzig Jahren erschien Konrad Lorenz’ Bestseller „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“.
Auf den Lektürestapel für die Weihnachtszeit gehört auf alle Fälle das soeben erschienene Buch „Lorenz“ von Ilona Jerger. Es handelt von dem Begründer der Tierpsychologie und Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989). Nach zwei Promotionen in Medizin und Zoologie wurde er 1940 als Professor für vergleichende Psychologie in Königsberg auf den ehemaligen Lehrstuhl Immanuel Kants berufen. Im Jahr darauf zur Wehrmacht eingezogen, kehrte er 1948 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. 1949 erschien sein noch heute lesenswertes Buch „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“. Von 1950 bis 1973 war er Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie. Für seine Entdeckungen zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern erhielt er 1973 gemeinsam mit dem britisch-niederländischen Forscher Nikolaas Tinbergen und seinem österreichischen Landsmann Karl von Frisch den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Lorenz’ Lebensweg einschließlich seiner zeitweiligen ideologischen Nähe zum NS-Gedankengut schildert Ilona Jerger, ehedem Chefredakteurin der Zeitschrift natur, in „einer ansprechenden Mischung aus Roman, Erzählung und Sachbuch“ (Spektrum der Wissenschaft). Bei dieser Gelegenheit übrigens empfiehlt es sich sehr, auch Konrad Lorenz’ Bestseller vor fünfzig Jahren, „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“, erneut (oder erstmals) zu lesen.
Ilona Jerger: Lorenz. Roman. Piper, München 2023, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro