© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/23 / 08. Dezember 2023

Er hat die Risse gesehen
Denkwege: In der kommenden Woche kann der französische Philosoph Alain de Benoist seinen achtzigsten Geburtstag feiern / Der Austausch von Gedanken ist ihm unverändert wichtig
Karlheinz Weißmann

Was ist der Maßstab für den Erfolg eines Lebens, dessen Zentrum Lesen und Schreiben gebildet haben, Vortrag und die Diskussion? Wenn es die Größe der Bibliothek und die Menge der Bücher, die man bewältigt hat, sein sollte, oder die Zahl der eigenen Veröffentlichungen, Referate und Nennungen durch andere Autoren, ist das Leben Alain de Benoists ein Erfolg. Fraglos ist er der einflußreichste und bekannteste Rechtsintellektuelle der Gegenwart. Die letzte gedruckte Fassung seiner Bibliographie erschien 2010. Schon da umfaßte sie fast neunhundert Seiten, wobei die erste Hälfte Benoists Veröffentlichungen ausmachten, die zweite Hälfte die Sekundärliteratur, die sich auf ihn bezog. Gibt man seinen Namen bei Google ein, werden mehr als 2,5 Millionen Ergebnisse angezeigt.

Aber damit bewegt man sich natürlich nur an der Oberfläche. Entscheidend ist ein noch nicht genanntes Kriterium: das der Richtigkeit der Analysen, die ein Denker liefert. Waren die Deutungen der Vergangenheit und des Zeitgeschehens, die Einschätzungen der zukünftigen Entwicklung nicht nur originell und aufsehenerregend, sondern auch tragfähig? Halten sie noch stand, wenn man zurückblickt und den Fortgang der Dinge in Rechnung stellt?

Europa muß seine geopolitischen Interessen definieren

Es wäre vermessen, wenn man diese Frage im Hinblick auf alle Publikationen Benoists bejahen würde. Selbstverständlich hat sich auch sein Ansatz entwickelt, ist vieles abgestreift worden, was zeitbedingt war oder den Konfliktlagen oder dem Tagesgeschehen geschuldet. Anderes betraf sowieso nur seine außerordentlich breiten Sonderinteressen. Die reichen von der Literaturwissenschaft über die germanische Altertumskunde bis zu allen möglichen, auch randständigen Themen der Geistesgeschichte. Aber wenn man das Zentrum seiner Arbeit in den Blick nimmt, die er – vor allem auf dem Feld der Philosophie – seit mehr als sechs Jahrzehnten unermüdlich vorangetrieben hat, wird man zwei Themenkomplexe ausmachen können, die ihn kontinuierlich beschäftigt haben:

Da wäre zum ersten die Dekadenz Europas. Seitdem der junge Benoist Abschied vom klassischen französischen Nationalismus und dem Lager der „Besiegten von 1944“ genommen hat, durchzieht seine Überlegungen wie ein roter Faden das Bemühen, die Ursachen dieses Niedergangs zu klären. Dabei spielten der Nietzscheanismus und die Feindseligkeit gegenüber dem Christentum anfangs eine beherrschende Rolle, während nach und nach die Auseinandersetzung mit dem „liberalen System“ ins Zentrum rückte. Für Benoist ist dieses charakterisiert durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Verfälschung des demokratischen Grundgedankens nach Entstehen einer „Kaste“ von Berufspolitikern, Plutokraten und Mediengewaltigen, und die Verankerung einer weltfremden Ideologie, die im Namen universaler Werte alle historisch gewachsenen Gemeinschaftsformen zerstört.

Meinungsverschiedenheiten nimmt er gelassen hin 

Aus dieser Bestimmung der Lage leitet Benoist – und das ist der zweite Aspekt, um den es hier geht – seine Alternative ab. Zu deren wichtigsten Merkmalen gehört die Forderung nach Emanzipation Europas von der Bevormundung durch Amerika und den Amerikanismus sowie die Vorbereitung der „Wiederverwurzelung“. Angesichts der Tatsache, daß die Krise der bestehenden Ordnung ihren Endpunkt noch nicht erreicht hat, müssen die Vorschläge zur Besserung notwendig unscharf bleiben. Aber in welche Richtung es gehen soll, kann man im Kleinen – etwa an Benoists sechshundert Seiten starkem Lexikon der Vornamen – wie im Größeren – etwa an seiner Stellungnahme zur politischen Ökologie oder seinem Entwurf einer kontinentalen Großmacht, die ihre eigenen geopolitischen Interessen definiert – deutlich ablesen.

Die Selbstsicherheit der Gegner Benoists fußte in der Vergangenheit vor allem darauf, daß sie ihm Alarmismus vorwarfen und allzu sicher waren, daß der Status quo eine Art Ewigkeitsgarantie habe. Benoist hat das nicht überzeugt. Er sah vielmehr unter der glänzenden Oberfläche der westlichen Konsumgesellschaft die Risse, die sich zunehmend verbreiterten, weil das „liberale System“ sie weder zur Kenntnis nahm, noch über Mittel verfügte, sie zu schließen. Von der sozialen Atomisierung bis zur Unwirtlichkeit der Städte, von der Massenmigration bis zum Verfall des Selbstbehauptungswillens, vom Abreißen aller Tradition bis zum woken „Einheitsdenken“ sind die Anzeichen der Selbstzerstörung aber heute so offensichtlich, daß die Prognosen Benoists in einem anderen Licht erscheinen müssen.

Das gilt auch für einen letzten Aspekt, auf den hier hingewiesen sei: das Ende des klassischen Links-Rechts-Schemas. Biographisch bezeichnend war schon, daß sich Benoist im Hinblick auf alle Versuche, in Frankreich eine nationalrevolutionäre, konservative oder wenigstens bürgerliche Gruppierung zu reorganisieren, „abseits gestellt“ hat. Umgekehrt ist an seiner Sympathie für heterodoxe Sozialisten wie Pierre-Joseph Proudhon, Georges Sorel oder Edouard Berth und die Köpfe der Konservativen Revolution, an seiner Parteinahme für Charles de Gaulle wie seiner optimistischen Deutung des Populismus ablesbar, daß er von der Notwendigkeit überzeugt bleibt, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts müsse mit anderen Konzepten als denen des 19. oder 20. Jahrhunderts begegnet werden.

Angesichts der Tatsache, daß er am 11. Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, weiß Benoist, daß er kaum noch erleben wird, ob sich diese Konzepte finden lassen und als tragfähig erweisen. Von Resignation spürt man aber nichts in seinen Veröffentlichungen. Zu denen gehörte jüngst ein Buch über den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Buber hatte seine Lehre vom Menschen auf das Dialogische Prinzip gegründet. Das besagt, daß es das Ich nicht ohne ein Du geben kann, daß wir von den anderen – nicht allen anderen, aber denen, die uns konkret begegnen – schlechthin abhängig sind. Die Unterhaltung, der gedankliche Austausch, auch die Diskussion, die scharfe Kontroverse, werden nur fruchtbar in dem Wissen um dieses elementare Angewiesensein aufeinander, sei es Zustimmung oder Widerspruch.

Wer einmal das Vergnügen eines ausführlichen Gesprächs mit Benoist hatte, weiß, daß er sich dieser Auffassung unbedingt anschließen würde. Meinungsverschiedenheiten nimmt er gelassen hin oder interessiert zur Kenntnis. Es fehlt ihm jeder missionarische Eifer, und er ist frei von jener typischen Sucht aller Intellektuellen, eine Bühne zu finden, auf der sie sich spreizen können.