Schüler können nicht mehr richtig schreiben“ – so lautet seit der ersten Pisa-Studie vor über zwanzig Jahren der stereotype Alarmruf in den etablierten Medien, wenn neu veröffentlichte „Studien“ zu den orthographischen Kenntnissen deutscher Schüler erscheinen. Diesen Abwärtstrend wollen die Germanisten Johanna Fay, Nils Langer und Caroline John-Wenndorf (alle Uni Flensburg) zwar prinzipiell nicht bestreiten. Doch sehen sie die Berichterstattung über den angeblichen „Verfall“ der Rechtschreibfähigkeit viel zu stark von „einseitigen Interpretationen“, ideologischen Sprachnormvorstellungen und bildungsbürgerlichem Kulturpessimismus geprägt (Muttersprache, 3/2023). Diese Hypothese überprüften sie mittels einer Umfrage unter 174 Universitäts- und Hochschuldozenten aus allen Fachgebieten, von Altphilologie bis Wirtschaftsinformatik. Demnach will die Hälfte von ihnen trotz sprachlicher Defizite in studentischen Texten, insbesondere bei Interpunktion, Grammatik („Der Renner ist die Unfähigkeit, daß und das zu unterscheiden“) sowie Groß- und Kleinschreibung keinen dramatischen „Abwärtstrend“ rechtschreiblicher Leistungen erkennen. Zwei Drittel dieser Gruppe gab an, die inhaltliche Güte eingereichter Arbeiten getrennt von Formalien zu bewerten. Rechtschreibfehler indizieren für sie kein negatives Urteil über fachliche Kompetenz. Nur für strenger zensierende Vertreter der Lehramtsfächer, für Juristen und Ingenieure, bedeute sprachliches auch fachliches Versagen. In dieser Gruppe überwiege daher die öffentlich kommunizierte kulturpessimistische Denkweise, die oft ohne sachliche Fundierung auskomme.