Wenn es ein Jüngstes Gericht gibt, könnte Henry Kissinger im Jenseits eine harte Zeit haben. Seine Kritiker behaupten, der Meisterdiplomat habe wenig Gefühl für die Folgen der von ihm befürworteten Politik gezeigt, die in vielen Teilen der Welt zu Tod und Zerstörung führte. Die Liste der Anklagen gegen Kissinger ist lang. Er wurde für den mörderischen Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende verantwortlich gemacht. Der Vietnamkrieg sei ein unnötiges Schlachtfeld geworden, und obwohl Kissinger den Rückzug der Amerikaner ausgehandelt habe, überlebte Südvietnam die kommunistische Machtübernahme im Jahr 1975 nicht.
Unter Präsident John Ford habe er grünes Licht für die brutale Niederschlagung eines bewaffneten Aufstandes in Osttimor durch das indonesische Militär gegeben. Zudem befürwortete er die Belieferung des Schahs von Iran mit hochmodernen amerikanischen Waffen als Gegenleistung für Öl, was indirekt zur Islamischen Revolution von 1979 führte. Gern wird er als Kriegsverbrecher bezeichnet, weil er als Berater von US-Präsidenten (insgesamt zwölf) angeblich gleichgültig gegenüber den menschlichen Kosten war.
Kissinger handelte bisweilen auf eigene Faust. Gegen Ende der Nixon-Regierung, abgelenkt durch Watergate, erließ Dr. Strangelove, wie er manchmal verspottet wurde, Durchführungsbestimmungen und setzte politische Maßnahmen um, ohne den Präsidenten auch nur zu informieren. Er war ein Meister der europäischen Kunst des Gleichgewichts der Kräfte, die vom außenpolitischen Establishment in Amerika nach 1945 aufgegeben worden war, als Amerika versuchte, liberal-demokratische Werte, die vom Kapitalismus der freien Marktwirtschaft angetrieben wurden, auf den Rest der Welt auszudehnen. Als Kissinger zum Nationalen Sicherheitsberater in der Nixon-Administration ernannt wurde, war die Zeit für die Vereinigten Staaten reif, sich den Realitäten des Kalten Krieges zu stellen, indem sie die Entspannungspolitik und Verträge zur Reduzierung der Atomwaffen mit der Sowjetunion fortsetzten und die diplomatischen Beziehungen zu China wieder aufnahmen.
Richard Nixons Metternich formte die Weltordnung in beiden Bereichen neu und fügte die Pendeldiplomatie hinzu, die die Vereinigten Staaten nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 zu einem ehrlichen Makler in der zyklonartigen Welt der Nahostpolitik machte und den sowjetischen Einfluß in der Region reduzierte.
Vieles von dem, was er erreichte, geschah mit Täuschung und Geheimhaltung, aber wie er oft sagte, sollte man verdeckte Aktionen nicht mit Missionierung verwechseln. Außenpolitik war für ihn keine Wissenschaft, sondern vielmehr die Kunst, in einem komplizierten Kraftfeld von Risiken und wachsendem Druck Chancen zu entdecken. Angesichts der Rückkehr zum Isolationismus in den USA im Gefolge der „ewigen Kriege“ im Irak und in Afghanistan könnte Amerika jetzt jemanden vom Format eines Kissingers benötigen, der die Welt mit klaren, aber kalten Augen sieht. Realismus besteht darin, das geringere Übel zu wählen, nicht irgendein abstraktes bestes moralisches Ergebnis. Er hat seine Arbeit bis zum Ende seines Lebens verteidigt und war der festen Überzeugung, daß Amerika eine notwendige Kraft für das Gute in der Welt ist. Es wäre gut, wenn es heute einen anderen Kissinger gäbe, aber vielleicht jemanden, der die weiche Macht Amerikas ebenso schätzt wie seine relativ schwindende harte Macht auf der aktuellen Weltbühne.
Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Europäische Geschichte an der University of San Francisco.