© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/23 / 08. Dezember 2023

Immer im eigenen Interesse
Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat das noch geltende Wahlrecht durchgewinkt – mit knapper Mehrheit und harscher Kritik dreier Richter
Jörg Kürschner

Die Suche nach dem „gerechten“ Wahlrecht geht weiter, auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Reform von 2020. Die damalige Opposition aus FDP, Grünen und Linken fühlte sich durch das Wahlgesetz der Großen Koalition in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt. Zu Unrecht, wie der Zweite Senat jetzt festgestellt hat, der bis zur nächsten Bundestagswahl voraussichtlich im Herbst 2025 noch weitere gewichtige Urteile zum Wahlrecht fällen wird. 

Überhangmandate, Ausgleichsmandate, Grundmandatsklausel – das sind die Stichworte, die das höchste deutsche Gericht beschäftigen. Seit 1963. Politiker und Parlamentsrechtler wissen warum. „Wahlrechtsfragen sind Machtfragen“ lautet eine politische Erfahrungsregel. So hatten Union und SPD 2020 im Alleingang beschlossen, die Überhangmandate nur noch eingeschränkt zu berücksichtigen. Diese entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dafür erhalten die anderen Parteien Ausgleichsmandate, damit die Sitzverteilung dem Stimmenverhältnis entspricht. Dadurch ist der Bundestag immer größer geworden. Bei der Wahl 2017 waren es 709 Abgeordnete, 111 mehr als vorgesehen.

Die Reform sah vor, daß die ersten drei Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen werden. Eine Mini-Reform zur Verkleinerung des Parlaments. Davon profitierten besonders große Parteien, argumentierten die Kläger. Außerdem sei die Regelung für den Wähler nicht verständlich und damit die Integrationsfunktion der Wahl beschädigt. In der internen Beratung über das Gebot der Normenklarheit muß es unter den acht Richtern hoch her gegangen sein, wie das Minderheitenvotum erkennen läßt.

 Daß eine Entscheidung mit 5:3 knapp ausfällt, kommt immer wieder vor. Ungewöhnlich ist jedoch die Wortwahl der Minderheit, darunter die Senatsvorsitzende Doris König und der frühere CDU-Politiker Peter Müller, der mittlerweile aus dem Gericht ausgeschieden ist. Die Mehrheit mute dem Wähler „eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung ‘im Blindflug’ zu“. Das widerspreche der „zentralen demokratischen Dignität des Wahlaktes“. Keine diplomatisch formulierte Sachkritik, sondern polemisch verfaßter Klartext. Liest sich wie ein verkappter Vorwurf, die Richtermehrheit fälle ein Fehlurteil.

Auch über das neue Wahlgesetz muß Karlsruhe noch entscheiden

Diese vertritt die Ansicht, das Gesetz richte sich „primär an die Wahlorgane als Rechtsanwender“, aber nicht „unmittelbar an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger“. Ein Grundsatzstreit. Jedenfalls steht jetzt fest, daß die Wahl 2021 mit nunmehr 736 Parlamentariern rechtmäßig war. Dieses Wahlrecht gilt auch für die Wiederholungswahl in Berlin, wo es im September 2021 zahlreiche Pannen gegeben hatte. Lange Wartezeiten vor Wahllokalen, falsche oder fehlende Stimmzettel, geschlossene oder bis weit nach 18 Uhr geöffnete Wahllokale machten Verwaltung und Politik in Berlin zum bundesweiten Gespött. Die Wahl zum Abgeordnetenhaus wurde bereits im Februar komplett wiederholt. Am 19. Dezember wollen die Richter bekanntgeben, ob auch die Bundestagswahl in vollem Umfang oder nur teilweise wiederholt werden muß. 

Von deutlich höherem politischem Stellenwert ist die Entscheidung der Verfassungsrichter über die im März mit Ampel-Mehrheit beschlossene Reform des Wahlrechts, die deutlich weiter geht als die von 2020. In der Absicht, den Bundestag auf die gesetzliche Größe von 598 Mandaten zu stutzen, soll es künftig weder Überhang- noch Ausgleichsmandate geben. Auch dieses Mal hat die Opposition, CDU/CSU und Linke, Klage in Karlsruhe erhoben. Sie wendet sich insbesondere gegen die Streichung der Grundmandatsklausel. Für eine Partei entfällt die Fünfprozenthürde, wenn sie wenigstens drei Direktmandate erringt. Und sie greift das Prinzip der Zweitstimmendeckung an. Es bedeutet, daß nicht jeder „Erststimmenkönig“ die Fahrkarte nach Berlin in der Tasche hat. Direktmandate sollen vom Ergebnis der Zweitstimmen abhängen. Wann das Gericht seine Entscheidung verkündet, ist noch nicht bekannt.