Zunächst das Positive: Wenn ein Einwanderer Deutsch gelernt hat, die Maximen von Demokratie und Religionsfreiheit verinnerlicht hat, den Unterhalt für sich und seine Familie aus eigener Arbeit bestreitet und bei seinem Aufenthalt in Deutschland nicht straffällig geworden ist, dann soll er nach einer Reihe von Jahren auch deutscher Staatsbürger werden können. Das finde ich gut. Möchte er die Staatsbürgerschaft seiner Heimat behalten, so ist das auch in Ordnung.
Wer in Deutschland eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung hat, ist Inländern sowieso in jeder Hinsicht außer dem Wahlrecht gleichgestellt. Von daher ist es verständlich, daß viele Ausländer, auch solche, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, an einer Einbürgerung wenig Interesse zeigen – und zwar ganz unabhängig davon, wie gut sie in die deutsche Gesellschaft integriert sind. Da hier lebende Ausländer umfassend dem deutschen Arbeitsrecht, Steuerrecht und Sozialrecht unterliegen, ist es auch finanziell sowohl für sie selbst als auch für den deutschen Staat weitestgehend neutral, welche Staatsbürgerschaft sie haben.
Einen Unterschied allerdings gibt es: Kriminell gewordene Ausländer oder solche, die sich beispielsweise antisemitisch positionieren, kann man ab einer gewissen Schwere der Straftat ins Ausland abschieben, für deutsche Staatsbürger gilt dies nicht. Wer also eingebürgert ist und etwa einen Ehrenmord begangen hat oder für den IS tätig war, darf nach Verbüßung seiner Strafe in Deutschland bleiben, obwohl er durch seine Verbrechen gezeigt hat, wie fremd und feindlich er unserer Kultur gegenübersteht. Dasselbe gilt für die Kriminalität arabischer Clans: Die Mitglieder des Remmo-Clans, die spektakuläre Raubzüge im Berliner Bode-Museum und im Dresdener Grünen Gewölbe unternommen haben, dürfen selbstverständlich nach ihrer Haftstrafe in Deutschland bleiben, weil alle verurteilten Bandenmitglieder deutsche Staatsbürger sind.
Wie erklärt sich also angesichts dieser Risiken und Nachteile das Interesse der deutschen Politik daran, Einbürgerung noch leichter zu machen, als sie ohnehin schon ist? Die Ampel-Koalition verbreitet über alle Medien die Behauptung, dies erleichtere die Integration. Dafür fehlt jeder Beleg im Gegenteil, es zeigt sich leider immer mehr, daß die deutsche Staatsbürgerschaft als solche Integration überhaupt nicht fördert: Die türkisch- und arabischstämmigen jungen Männer, die an Silvester in Berlin Randale machten, Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste angriffen, waren zum allergrößten Teil deutsche Staatsbürger, geboren und aufgewachsen in Deutschland, und das galt auch für den größten Teil der propalästinensischen Demonstranten, die seit dem 7. Oktober in deutschen Städten antisemitische Parolen skandierten.
Die beiden Länder in der EU, die gegenwärtig die größten Probleme mit den Gewalttaten muslimischer Migranten haben, nämlich Frankreich und Schweden, zeichnen sich traditionell durch besonders liberale Einwanderungsregeln aus. Fünf Jahre Aufenthalt reichen in beiden Ländern zum Erwerb der Staatsbürgerschaft, und auch die Regeln für die doppelte Staatsbürgerschaft sind extrem liberal. Vor diesem Hintergrund erfüllt die Behauptung der Ampel-Koalition, erleichterte Einbürgerung fördere die Integration, den Tatbestand der Volksverdummung. Tatsächlich hat es sich in Deutschland als wahr erwiesen, daß Integrationsbereitschaft und Integrationserfolg von der Leichtigkeit der Einbürgerung weitestgehend unabhängig sind. Maßgebend für die sehr unterschiedlichen Integrationserfolge sind vielmehr kulturelle, religiöse und ethnische Faktoren. Das möchte eine auf Politische Korrektheit getrimmte Multikulti-Ideologie offenbar um keinen Preis wahrhaben.
Die Integration der Einwanderer aus Ostasien und Osteuropa war in Deutschland, gemessen am Bildungserfolg, an der Arbeitsmarktbeteiligung, dem Spracherwerb und der Kriminalität, durchweg sehr erfolgreich (lediglich die Integration der Roma stellt hier ein besonderes Problem dar). Dagegen ist die Integration der türkischen, arabischen und afrikanischen Einwanderer sowie ihrer Nachfahren überall in Europa mit großen und anhaltenden Schwierigkeiten verbunden. Im Fall der türkischen Einwanderer zeigt sich das auch am Wahlverhalten. Trotz jahrzehntelangen Aufenthalts unterstützen zwei Drittel der wahlberechtigten Türken in der EU den islamistischen und autoritären Präsidenten Erdoğan.
Die geplante Verkürzung der Frist bis zu einer Einbürgerung von acht auf fünf Jahre, die Erweiterung der Möglichkeiten zur doppelten Staatsbürgerschaft sowie die Absenkung der Hürden beim Spracherwerb sind vor diesem Hintergrund keine Zeichen von Liberalität. Sie sind vielmehr ein Dokument der Hilflosigkeit. Die deutsche Staatsbürgerschaft, die doch knapp und begehrt sein sollte, wird so zur Ramschware degradiert. Wer seit vierzig Jahren in Deutschland lebte und nur wenige Brocken Deutsch stammeln kann, dem wird die Staatsbürgerschaft gleichwohl nachgeworfen – mit der einzigen Begründung, daß er schon so lange hier ist. So werden die Anstrengungen der wirklich Integrationswilligen entwertet und lächerlich gemacht.
Warum nur wird die Erleichterung der Einbürgerung von der Ampel-Koalition so leidenschaftlich und leichtfertig betrieben? Drei Erklärungen bietren sich dafür an:
• Vom ungelösten Drama des anhaltenden millionenfachen Zustroms kulturfremder Einwanderer wird auf ein Thema abgelenkt, das Debattenkraft fesselt, aber vergleichsweise unwesentlich ist.
• Die Verdünnung der Anforderungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft freut jene politische Minderheit, die Deutschland eigentlich abschaffen möchte. Dazu paßt das Bestreben des Bundesamts für Verfassungsschutz, jede Bezugnahme auf einen ethnischen Volksbegriff in die rechtsextreme Ecke zu schieben.
• Indem immer mehr Ausländer zu deutschen Staatsbürgern umfirmiert werden, sinkt auch der gesonderte statistische Ausweis von Ausländerkriminalität und anderen einwanderungsbedingten Problemlagen. So wird eine kritische öffentliche Debatte erschwert.
Auch die CDU/CSU wird das novellierte Einbürgerungsrecht im Falle eines Wahlsiegs nicht mehr revidieren können, denn sie muß ja mit der SPD und/oder mit den Grünen regieren, solange sie die „Brandmauer“ zur AfD aufrechterhält.
Dr. Thilo Sarrazin war Finanzsenator Berlins und Vorstandsmitglied der Bundesbank. Von 1973 bis zu seinem Rauswurf 2020 gehörte er der SPD an.