Im Zeitzeugenbericht wird Geschichte sinnlich erfahrbar. Das eröffnet dem Leser eine unmittelbare, persönliche Dimension, die durch die geschichtswissenschaftliche Erörterung historischer Entwicklungen allein nicht erschlossen werden kann. Das schmale Bändchen mit den Hafterinnerungen der Ärztin Christa Schnabel liefert einen solchen Einblick in den Repressionsapparat des DDR-Systems.
Schnabel erblickte 1931 in Kötzschau das Licht der Welt. Nach dem Studium der Medizin in Leipzig zog sie nach Jena, wo sie Studenten in anatomischen Vorlesungen unterrichtete. Ihr Mann arbeitete als renommierter Professor am Institut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie. Doch gerade ihr Mann sollte dort bald merken, daß das System für ihn eigentlich keine Verwendung fand. Er erhielt plötzlich keine der ursprünglich zugesagten wissenschaftlichen Assistenten mehr. Sein Chef teilte ihm mit, daß seine Arbeit auf dem Gebiet der Neuropathologie gar nicht mehr erwünscht sei. Später wurden auch die Mittel für die Forschungen auf dem Gebiet der Immunbiologie gestrichen, die zur Bekämpfung von Leukämie und Tumoren gedacht waren. Beruflicher Druck und ständige Intrigen führten zu Gesundheitsproblemen bei ihm.
Dem stand die Freiheit der Lehre entgegen, die Schnabels Mann bei einem beruflichen Ausflug nach Wien erleben durfte. Zu der beruflichen Sackgasse kam die Indoktrination in der Schule. Als die Lehrerin die Klasse fragte, wer an Gott glaube, standen zwei Mädchen auf, darunter Schnabels Tochter. „Nun lacht die beiden mal alle aus!“ äußerte daraufhin die Lehrerin. Spätestens da war Schnabel bewußt, daß ihre Töchter später in ihrem beruflichen Vorkommen stark benachteiligt sein würden. Arbeiterkinder wurden in der DDR entgegen jenen aus „Intelligenzfamilien“ nämlich deutlich gefördert.
Da Schnabels Schwester bereits im Westen lebte, keimte die Idee der Flucht. Die Familie entschied sich, 1974 von einer Schleusergruppe in einem PKW-Kofferraum über die Grenze transportiert zu werden. Doch da die Schleuser in Wirklichkeit Agenten waren, wurden sie entdeckt. Eine Tortur begann. Das Paar wurde getrennt. Die Kinder wurden erst in ein Heim gebracht, dann der Patentante in Zwickau übergeben. Schnabel wurde erst in den Stasiknast Berlin-Hohenschönhausen überführt, worauf sich eine Odyssee durch mehrere Haftanstalten anschließen sollte. Eindringlich schildert sie ihre Erlebnisse aus dem Inneren des DDR-Haftsystems, von Folter durch Schlafentzug, von verweigerter medizinischer Behandlung trotz akuter Lebensgefahr, von Intrigen unter den Häftlingen, von Psychoterror und Zwangsarbeit, von zynischen oder aggressiven Kommentaren der sadistischen Beamten. Ein Lehrstück.
Christa Schnabel: Was dich in Wahrheit hebt und hält. Die schwersten Jahre meines Lebens in drei Jahren DDR-Haft. Edition Tredition, Hamburg 2023, broschiert, 112 Seiten, 9 Euro