Vor 175 Jahren, am 2. Dezember 1848, übergab der epileptische Kaiser Ferdinand „der Gütige“ die Krone der Habsburgermonarchie seinem Neffen Franz Joseph I., inzwischen wie Charles III. einer sensationslüstern-zeitgeistigen Öffentlichkeit vielleicht in erster Linie über seine inkompatible Frau bekannt, die unter dramatischen Umständen ums Leben kam. Doch während Charles über 70 Jahre alt werden mußte, bevor er den Thron bestieg, übersprang Franz Joseph eine Generation und regierte selbst 68 Jahre. Attentate gab es zu seiner Zeit mehr als heute – aber das galt für Monarchen, die allesamt auch Offiziere waren, als Berufsrisiko. Allzu auffällige „Security“ verbat sich der Kaiser. Er fuhr die längste Zeit bloß von einem Wachmann begleitet jeden Tag auf derselben Strecke im offenen Wagen von Schönbrunn in die Hofburg.
Eine Facette seiner Regierungszeit hat Franz Jo-seph selbst so umrissen: „Ich bin ein Pechvogel“, nämlich gerade auf dem Sektor, der ihm besonders am Herzen lag. Das Heer gründete im Revolutionsjahr 1848/49 Österreich neu, als „großösterreichisch-militaristische“ Reichsgründung, um einen DDR-Jargon ein wenig zu verfremden. Der junge Kaiser selbst galoppierte über eine brennende Brücke in eine gerade erst eroberte Stadt. Doch er verlor alle weiteren Kriege (von Dänemark 1864 abgesehen). 1859 ließ ihn der Deutsche Bund gegen Napoleon III. im Stich, 1866 schloß er sich mit den Österreichern gegen Preußen an – und unterlag gegen Moltke und das Zündnadelgewehr.
Doch schon 1879 bahnte sich der Zweibund an, das Bündnis der alten Gegner von 1866. Das heute so ausgiebig beweinte Zeitalter des Imperialismus bescherte der Habsburgermonarchie eine Generation lang ein ungestörtes Dasein. Während seine Konkurrenten ihre Rivalitäten in Übersee austrugen, betrachtete Wien das tolle Treiben erste Reihe fußfrei. Erst nach der russischen Niederlage gegen Japan schwang das Pendel zurück nach Europa. Schließlich waren es Franz Joseph und die Russen, die 1914 den Ersten Weltkrieg auslösten – auch wenn die Preußen es bis heute nicht verwinden können, daß sie dabei nicht jene zentrale Rolle gespielt haben, wie es ihrem masochistischen Rollenbild entspricht.
Die besondere Leistung Franz Josephs war seine Rolle als konstitutioneller Monarch, ein Fach, in dem er es zu unerreichter Meisterschaft brachte. Ein Monarch nicht als Galionsfigur, sondern als CEO (Chief Executive Officer). Er verfügte über keinen Bismarck und keinen Moltke. Die Schwarzenbergs und Radetzkys starben ihm noch während seiner jungen Regentschaft weg. Franz Joseph konnte die Verantwortung schwer delegieren. Er soll einmal gesagt haben, er sei sich im klaren, daß sein Reich einen Anachronismus darstelle. 1848 wäre die Monarchie beinahe auf ihre Völker aufgeteilt worden (oder doch zumindest auf die sogenannten „historischen Nationen“ unter ihnen). Franz Joseph verstand es, diese Hypothek eines Vielvölkerstaates zu seinem Vorteil zu nutzen.
Denn die Kehrseite dieser zentrifugalen Tendenzen war: Es gab im Parlament auch keine über-nationale Mehrheit, die imstande gewesen wäre, dem Kaiser das Gesetz des Handelns zu diktieren. In Ungarn vielleicht schon, doch in der österreichischen „Reichshälfte“ nicht. Im Reichsrat waren acht „Nationalitäten“ vertreten; rechnet man pro Ethnie gut zwei bis drei politische „Lager“, so kam man auf weit über ein Dutzend Parteien – das richtige Exerzierfeld für ein virtuoses „Teile und herrsche“. Sein längstdienender Premier, Count Eduard Taaffe of Ballymote, aus einer Familie irischer „Wildgänse“, charakterisierte die arcana Imperii des Regimes dementsprechend, man müsse die Völker des Reiches in „wohltemperierter Unzufriedenheit“ erhalten.
Der Kaiser sah sich als deutscher Fürst und katholischer Monarch
Franz Joseph war kein moderner Mensch. Er schwärmte für strategische Eisenbahnen, nicht Automobile; für die Architektur des „Second Empire“, nicht den Jugendstil und die Sezession. Das intellektuelle Ferment des „Fin de siecle-Vienna“ ging an ihm vorbei. Aber er kannte seinen Behördenapparat bis ins kleinste Detail und erledigte mit Akribie seine Hausaufgaben. Auswärtige Besucher staunten noch im letzten Jahr über die Informiertheit des Monarchen. Für Lobbyisten war der nüchterne Praktiker eine harte Nuß. Als sein Obersthofmeister eine Empfehlung aussprach, musterte ihn der Kaiser kühl: Das könne wohl richtig sein; aber zuerst möge er ihm sagen, was ihn die Sache angehe. Bismarck schätzte Franz Joseph – und hielt ihn bloß für „schauerlich matinös“. Seine letzten Worte waren: „Morgen, wie immer um ½ 4h.“ Er verfügte über eine robuste Gesundheit – er rollte noch mit 70 perfekt ab, als sein Pferd strauchelte und stand unbeschadet wieder auf. Erst mit über 80 war er das erste Mal ernstlich krank, was umgehend Anlaß gab zu Börsenmanövern.
Der Kaiser sah sich als deutscher Fürst und katholischer Monarch. Aber weder die Deutschnationalen noch die Klerikalen hatten so wirklich ihre Freude mit ihm, weil er sich von ihnen nicht vorschreiben lassen wollte, wie sich ein guter Deutscher oder ein braver Katholik zu benehmen habe. Er hatte keine Scheu davor, auch Bischöfe und Standesherren „korporalsmäßig“ abzukanzeln. Es gab immer wieder Phasen des Notverordnungsregimes, aber keine Weichenstellung für eine „Königsdiktatur“. Den Parteien war es vielfach gar nicht unrecht, die Verantwortung für unpopuläre Notwendigkeiten auf die kaiserliche Exekutive abschieben zu können. Politisch haben seine Regierungen die Dogmatiker unter den Radikalen aller Schattierungen isoliert, die Populisten an die Fleischtöpfe geholt und ihre Pfründe publik gemacht, wenn sie nicht mehr spurten. Die Habsburgermonarchie kannte keine fein säuberliche Unterscheidung in Patrioten und „Reichsfeinde“. Der Kaiser regierte einmal mit den Deutschen, dann mit den Tschechen, nur fast immer mit den Polen, einmal mit den Liberalen, dann mit den Klerikalen – freilich nie wirklich mit den Sozialdemokraten.
Franz Joseph war natürlich kein Demokrat. Aber wenn es sein mußte, scheute er auch vor dem allgemeinen Wahlrecht nicht zurück. Die Audienz des Sozialistenführers Viktor Adler kommentierte er mit trockenem Humor: „Er war sehr gnädig mit mir.“ Ihm ging es um die Funktionstüchtigkeit des Systems. Einer seiner Minister seufzte, der Kaiser sehe alles nur geschäftsmäßig. Seine Version des schönen Spruches: „Wer Visionen hat, gehört zum Arzt“ lautete, er halte nichts von „Wolkenschiebereien“. Über die zwei führenden Politiker und „Chefideologen“ der Linken und der Rechten seufzte er bei Gelegenheit: Wenn man sie beide einsperrte, könnte man in Österreich zur schönsten Ordnung kommen.