Bernhard Sauers Buchtitel gibt zunächst Rätsel auf: „Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg?“. Denn seine schmale Studie provoziert die Gegenfrage: Für wen? Welche der beteiligten Mächte hätte denn in diesen Krieg unter der Parole eintreten können, sich nur verteidigen zu müssen? Auf den ersten Blick vielleicht Frankreich, weil im August 1914 deutsche Armeen seine Grenzen überschritten. Schaut man indes genauer auf die Vorgeschichte des Weltkriegs, stünde heute schnell Frankreichs maßgeblicher Anteil an dieser „Urkatastrophe“ zur Debatte. Mit Unterstützung aggressiver nationalistischer Führungskreise Serbiens, dem Ziel der ersten Offensive der österreichisch-ungarischen Streitmacht, war am 28. Juni 1914 in Sarajevo der österreichische Thronfolger ermordet worden. Die darauf mit der Kriegserklärung reagierende k.u.k. Monarchie, trat dann als Angreifer auf, befand sich im galizischen Osten des Habsburgerreiches gegen Rußland jedoch in der Defensive. Ähnlich wie das deutsche Kaiserreich, das im Westen angriff, während in die Provinz Ostpreußen Mitte August 1914 zwei zaristische Armeen einfielen.
Wer Angreifer und wer Verteidiger ist, läßt sich im Ersten Weltkrieg also nicht leicht bestimmen. Sklavisch Fritz Fischer folgend, glaubt Sauer in seiner anachronistisch wirkenden Untersuchung jedoch, zumindest einen Angreifer klar identifiziert zu haben: das Deutsche Reich. Das seinen Part als Hauptverantwortlicher zu tarnen gewußte habe, indem es seinen Eroberungs- als Verteidigungskrieg ausgab. Daß sich das Reich gegen „eine Welt von Feinden“ verteidigte, war eine Deutung, die bis in die 1960er überwiegend als Konsens in der bundesdeutschen Öffentlichkeit galt. Der sich erst sukzessive auflöste aufgrund der 1961 („Griff nach der Weltmacht“) und 1970 („Krieg der Illusionen“) erschienenen, fast dreißig Jahre geschichtspolitische Kontroversen hierzulande befeuernden Arbeiten des Hamburger Historikers Fritz Fischer. Dessen These lautete, daß die politisch-militärische Elite des Kaiserreichs diesen Krieg langfristig plante und durchsetzte, um sich die Hegemonie über Europa als Ausgangsbasis zu sichern für einen mit dem britischen Empire, Rußland und den USA auszufechtenden Kampf um die Weltmacht.
Penetrante Ressentiments der „Vergangenheitsbewältigung“
Bernhard Sauer, Jahrgang 1949, ist offenbar kein Experte für den Ersten Weltkrieg. Der Forschungsschwerpunkt des 2003 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin mit einer Studie über die „Schwarze Reichswehr“ promovierten Zeithistorikers liegt auf dem „Rechtsradikalismus“ der Weimarer Republik, den Sauer in einigen Aufsätzen zur Geschichte der Freikorps exemplifiziert, die ganz der üblichen, das Thema für den bundesdeutschen „Kampf gegen Rechts“ aktualisierenden Manier verpflichtet sind. Dank der auf breiter Quellenbasis entstandenen, jüngst publizierten Monographien von René Hoffmann (JF 45/23) zählt derlei Schrifttum jetzt wohl endgültig zur Makulatur.
Das Ressentiment der „Vergangenheitsbewältigung“, das diese ältere Produktion Sauers verströmt, durchzieht mit gleicher Penetranz seinen Beitrag zur Weltkriegsgeschichte. Und hindert ihn, auf kritische Distanz zu gehen zur inzwischen fragwürdig gewordenen These Fischers über die deutsche „Hauptschuld“ am Kriegsausbruch. Darum bleibt er Fischer und der an einer britischen Fernuniversität lehrenden, monothematisch ausschließlich auf die „Julikrise 1914“ fixierten Fischer-Adeptin Annika Mombauer so treu, daß er glaubt, die gesamte jüngere Forschung ignorieren zu dürfen. Christopher Clarks revisionistische Arbeit „Die Schlafwandler“ (2013) wird daher nur einmal eher beiläufig gestreift, während er von den gleichfalls bahnbrechenden Untersuchungen Stefan Schmidts („Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise“, 2009), Sean McMeekins („The Russian Origins of the First World War“, 2011 und „Juli 1914. Der Countdown in den Krieg“, 2013) sowie Rainer F. Schmidts in der Historischen Zeitschrift (303/2016) veröffentlichten Mikrostudie zur bündnispolitischen Vorbereitung des Ersten Weltkriegs: „‚Revanche pour Sedan“ überhaupt keine Notiz nimmt, so daß der „neue Trend der ‘Umverteilung’ der Kriegsschuld“ (Gerd Krumeich) zu Lasten Frankreichs und Rußlands an Sauer vorbeigeht. Keine Rede von der wichtigen, am German Historical Institute London herausgegebenen Studie von Andreas Rose „Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg“, die alle gängigen Klischees zur angeblich altruistischen Balancepolitik Londons auf dem Kontinent weitestgehend ausräumt.
Nach dem ersten, 25seitigen Kapitel über „Julikrise und Kriegsausbruch“ endet das Werk, soweit es sich auf das im Titel ankündigte Schattenboxen um die deutsche Propagandaformel vom „Verteidigungskrieg“ bezieht. Es folgten dröge Referate über den Kriegsverlauf von der Marne-Schlacht bis zu Verdun, zur Tragödie an der Somme, dem U-Boot-Krieg und schließlich zur Entlassung des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg im Juli 1917. Eingeschoben wird ein Kapitel zur Geschichte der Sozialdemokratie während des Krieges, bevor diese Nacherzählungen dann mit dem Kapitel „Kriegsende und Zusammenbruch“ mitsamt einer konventionellen Reflexion zur „Dolchstoßlegende“ enden. Angehängt ist noch ein bizarres Kapitel zu „Adolf Hitler und der Erste Weltkrieg“, das Zitate aus „Mein Kampf“ kompiliert, um im Stil Fischers „Kontinuitäten“ deutschen Weltmachtstrebens wenigstens anzudeuten. Als besonders ärgerlich ragt in diesen Zitatencollagen, die keine neuen Quellen bieten (Sauer hat im Bundesarchiv lediglich eine Akte und zwei Karteiblätter eingesehen!) und sich wieder rein aus selektiv wahrgenommener Forschungsliteratur nähren, die unkritische Bewertung des deutschen Friedensvorschlags vom Dezember 1916 heraus. Der sei, da unehrlich, zu Recht von den Feindmächten abgelehnt worden. Daß die Entente aber zu keinem Zeitpunkt zu einem Frieden mit dem Kaiserreich bereit war, hat zuletzt eine akribische Studie des Freiburger Emeritus Hans Fenske nachgewiesen („Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914–1919“, 2013). Auch ein Werk, das selbstredend in Sauers Literaturverzeichnis fehlt.
Bernhard Sauer: Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg? Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2023, gebunden, 188 Seiten, 49,90 Euro