© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

Wabernde Großmäuligkeit
Amerika den Amerikanern: Vor 200 Jahren wurde in Washington die Monroe-Doktrin verkündet
Lothar Höbelt

Es gab in Europa nach 1815 eine Art Breschnew-Doktrin der Heiligen Allianz: Metternich verordnete den absoluten Monarchien eine bloß begrenzte Souveränität. Im Ernstfall erwartete sie „brüderliche Hilfe“: So marschierten die Österreicher in Neapel ein, die französischen „Söhne des Hl. Ludwig“ 1823 in Spanien, wo sie König Ferdinand VII. wieder in seine alten Rechte einsetzten. Nun war die Revolution gegen Ferdinand VII. ausgebrochen, weil er seine Armee zur Rückeroberung der aufsässigen Kolonien nach Amerika schicken wollte. In London regte sich die Besorgnis, daß die bourbonischen Verwandten in Paris ihrem Cousin auch in Übersee zur Hand gehen könnten, unterstützt vielleicht vom Zaren, der als einziger an die Heilige Allianz glaubte – und eben erst den nördlichen Pazifik zum russischen „mare nostro“ erklärt hatte.  

Jetzt beherrschte England zwar ohnehin die Meere – eine französische oder russische Intervention in Übersee gegen seinen Widerstand war schwer möglich. Aber vielleicht konnte man sich derlei Konflikte überhaupt ersparen, wenn man allen solchen Plänen eine überzeugende Abschreckungsfront gegenüberstellte. Deshalb hätte der britische Außenminister George Canning gern die USA zu einer gemeinsamen Erklärung überredet. Mit den USA hatte man zwar bis vor kurzem noch Krieg geführt (noch 1814 zündeten die Briten kurzerhand das „Weiße Haus“ an). Doch in diesem Fall wiesen die Interessen in dieselbe Richtung. Präsident James Monroe war auch durchaus bereit, auf Cannings Vorschlag einzugehen. Sein Kabinett gab ihm da recht – nur Außenminister Adams wollte durchaus sein eigenes Süpplein kochen. 

John Quincy Adams hatte als Diplomat Jahrzehnte in Europa verbracht, er war ein Bewunderer der deutschen Kultur und hatte Wieland ins Englische übersetzt. Der Mann von Welt sah auf seine ungehobelten Landsleute herab, aber er war der Sohn eines Präsidenten – und wollte selbst gern Präsident werden. Innenpolitisch befanden sich die USA damals in einer Ausnahmesituation, der „Era of Good Feelings“ – es gab keine Parteien mehr, dafür um so mehr persönliche Fehden und Untergriffe. Adams setzte auf die patriotische Karte.Man solle sich nicht von den Briten ins Schlepptau nehmen lassen, sondern stolz eine eigene Doktrin verkünden: Amerika den Amerikanern. Der Text war übrigens vorher schon mit den Russen abgeklärt worden. Um des lieben Friedens willen im Kabinett stimmten ihm seine Kollegen zu, manche mit hörbarem Zähneknirschen ob dieser populistischen Allüren des versnobten Rivalen. Monroe verkündete die Doktrin, die nicht die seine war, am 2. Dezember 1823 vor dem Kongreß. 

Zur Probe aufs Exempel kam es aber doch nicht. Ferdinand VII. war ein Genie des Ungeschicks. Er ließ prompt auch noch die letzten Spanier in Übersee seine Ungnade spüren, weil sie dem Revolutionsregime die Treue gehalten hatten. Die im Stich gelassenen Militärs arrangierten daraufhin ein letztes Gefecht und eine ehrenvolle Kapitulation. Metternich als Kutscher Europas aber war in Übersee nur an Brasilien mit seiner habsburgischen Kaiserin interessiert – als Gegengewicht gegen das revolutionäre Portugal. Der Anlaßfall war damit bereinigt. Canning resümierte vollmundig: Er habe die neue Welt ins Leben gerufen, um das Gleichgewicht in der alten wieder herzustellen.

Europäische Staaten intervenierten weiterhin mehrfach in Amerika

Was blieb, war die sogenannte Monroe-Doktrin: Amerika den Amerikanern, keine europäischen Interventionen in der westlichen Hemisphäre. Leute, die Geopolitik vorzugsweise unter ideologischen Vorzeichen betrachten, mögen sich daran berauschen – oder mit Abscheu von soviel Yankee-Anmaßung abwenden. Uns anderen sei ein Blick darauf erlaubt, wie es eigentlich gewesen ist. Denn Anlaßfälle für die Monroe-Doktrin gab es im 19. Jahrhundert noch jede Menge. Nur die Reaktion darauf war ganz anders, als man erwarten mochte. Ließen die USA den vollmundigen Erklärungen auch Taten folgen? Schon zehn Jahre später rückten die Engländer tatsächlich in ein Gebiet ein, das die Spanier geräumt hatten, nämlich auf die Falklands. Der Konflikt entwickelte sich für die USA 150 Jahre später zur Peinlichkeit. Damals jedoch waren die Inseln als Räubernest unangenehm aufgefallen; es war den USA ganz recht, wenn die Engländer dort für Ordnung sorgten. 

1838 holten die Franzosen im sogenannten „Kuchenkrieg“ gegen Mexiko dann zur Kanonenbootpolitik aus und probierten vor Vera Cruz ihre neuen Sprenggranaten aus. Spätestens da hätte die Monroe-Doktrin zu großer Form auflaufen können. Doch mit Mexiko lagen die USA wegen Texas selbst im Streit, der berühmte Kampf um Alamo war erst zwei Jahre her. Da war Schadenfreude Trumpf, nicht panamerikanische Solidarität. 

1845 intervenierten dann Engländer und Franzosen gemeinsam am Rio de la Plata. Die Flotten der Westmächte durchbrachen die argentinische Sperre des Flusses. Eines der Resultate war übrigens, daß die Tochter des argentinischen Präsidenten Rosas von feindlichen Diplomaten und Admirälen mit Heiratsanträgen überschüttet wurde. Zum Unterschied von Evita hat es Manuelita leider nicht zu einem eigenen Musical gebracht. Und die Monroe-Doktrin? US-Präsident James Polk erklärte, sie habe ohnehin nur für Nordamerika gegolten. Eines seiner Kabinettsmitglieder, das schon 1823 mit dabeigewesen war, John Calhoun, kramte in seinen Erinnerungen: Monroe selbst habe Adams Erklärung für keine gute Idee gehalten. Derlei „wabernde Großmäuligkeit“ („vapouring bravado“) sei zu nichts nütze. 

In Nicaragua intrigierten in den fünfziger Jahren zwei US-Tycoons gegeneinander, Vanderbilt und Morgan. Das Kabinett war gespalten – also holte man letztendlich die Briten zu Hilfe. Die Devise, keine weiteren Kolonien zu dulden, galt selbstverständlich nicht für Gebiete, die sich den USA anschließen wollten. Das klappte einmal, eben im Fall von Texas, nicht dort, wo man es so gern gehabt hätte, nämlich in Kuba, das bis zum Ende des Jahrhunderts spanisch blieb. Eine Insel weiter hätte es beinahe geklappt: Die Dominikanische Republik hatte Angst vor dem expansiven schwarzen Haiti. Sie kehrte deshalb 1861 zu Spanien zurück; versuchte es dann mit den USA – doch der Senat lehnte 1871 dankend ab. Nur in Mexiko übten die USA 1866 massiven Druck auf Napoleon III. aus, das Kaiserreich Maximilians fallenzulassen – aber sie hatten sich auch dazu ein paar Jahre Zeit gelassen, um vorher ihren eigenen Bürgerkrieg hinter sich zu bringen. 

Erst um die Jahrhundertwende gewann die Monroe-Doktrin an Popularität. Inzwischen waren die USA zur Industrienation Nummer eins aufgestiegen. Das war es, was zählte. Ihre Wünsche hatten Gewicht, unabhängig von Dogmen und Doktrinen.






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien