© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

Igor Levit und das erkaltete Deutschland
Die Unfähigkeit zu trauern: Wie sich die Dauerpräsenz des Holocaust auf die Empathie für Israel auswirkt
Thorsten Hinz

Der Pianist Igor Levit hat viel Energie darauf verwendet, sich auch außerhalb der Musiksäle einen Namen zu machen. Er ist Mitglied der Grünen und äußert sich seit Jahren über soziale Medien, in Interviews, Talkshows oder vor Ort zu politischen Themen: Menschenrechte, Demokratie, Klimaschutz, Rassismus, Rechtsradikalismus, Fridays for Future – zu allem hat er eine dezidierte Meinung und teilt sie in oft emotionsgeladenen Formulierungen mit. 2019 twitterte er, AfD-Anhänger hätten ihr „Menschsein verwirkt“. Das ging sogar AfD-Gegnern zu weit, worauf er erklärte, er habe das Wort „Menschsein“ im Sinne des jiddischen Wortes „Mentsch“ gebraucht, welches einen „ehrenhaften, umsichtigen Menschen“ meint. Damit stand Levit – Jahrgang 1987 und 1995 mit den Eltern als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen – wieder auf der sicheren Seite.

Als vor drei Jahren ein Musikkritiker in der Süddeutschen Zeitung sich über seine mediale Umtriebigkeit belustigte und das Spiel des russischen Pianisten Daniil Trifonov – der wie Levit in Nishni Nowgorod geboren wurde – über seines stellte, begnügte die Chefredaktion sich nicht mit einem Gegenartikel, sondern hielt eine zerknirschte Bitte um Entschuldigung für angezeigt. 2020 wurde Levit das Bundesverdienstkreuz verliehen. Begründung: „Bei ihm seien künstlerisches Wirken, gesellschaftspolitisches Engagement und Solidarität mit anderen untrennbar miteinander verbunden.“

Daran gewöhnt, von einem warmen Kokon aus Beifall, Symphatiebekundung und Ehrfurcht umhüllt zu sein, konstatiert Levit seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober einen Kälteschock. „So allein wie noch nie“ fühle er sich, sagte er der Wochenzeitung Die Zeit in einem Interview (15. November). Er vermißt die breite Solidarisierung mit Israel und den angefeindeten Juden in Deutschland. Zu den Kundgebungen hätten sich „nur erschreckend wenig Menschen“ eingefunden. „Die jetzt fehlende Empathie hat bei mir dazu geführt, daß ich mein Grundvertrauen in das, was Gesellschaft in Deutschland ist, verloren habe“, sagte er. „Das ist der eigentliche Bruch, den ich empfinde.“

Das Hamas-Massaker löste bei Juden einen Schock aus

Die Kritik gilt der eigenen, der überwiegend rot-grün angehauchten Kulturbranche: „Einige haben sich positioniert, aber die allermeisten nicht. Mit einigen habe ich im Hintergrund gesprochen und gefragt: Wo seid ihr? (…) Und da bekam ich nur die Antwort: Israel ist halt kompliziert. Ich bin aber nicht Israel!“ Er fühlt sich verraten: „Ich habe immer darauf vertraut, daß meine politischen Verbündeten, die von universeller Menschlichkeit sprechen, die immer ihre Stimme gegen Rassismus oder Frauenfeindlichkeit erhoben haben, auch für Juden einstehen. Jetzt, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Judenhaß-Explosion erlebe, merke ich: Oh, warte mal, Antisemitismus ist offensichtlich für einige von euch doch nicht so schlimm, Freunde. Das Verhalten vieler, die sich sonst immer gegen dehumanisation hinstellen und jetzt durch Schweigen dehumanisation der Juden betreiben – dieses erkaltete Verhalten schockiert mich.“

Nun ist es nachvollziehbar, daß mit jedem Tag, an dem neue Schreckensbilder und -nachrichten aus dem Gazastreifen eintreffen, vielen Menschen die eindeutige Parteinahme für Israel immer schwerer fällt. Andererseits muß man weder die Komplexität des Nahost-Konflikts negieren noch dem bundesdeutschen „Schuldkult“ anhängen, um den Schock zu begreifen, den das Hamas-Massaker vom 7. Oktober bei Juden ausgelöst hat. Dafür braucht es wirklich nur ein wenig Einfühlung in ihre Situation. Israel galt als ultimativer Schutzraum, als die unverrückbare Lebensversicherung für Juden weltweit. Dieses absolute Sicherheitsversprechen ist dahin. Die Schutzräume der grenznahen Kibbuze sind buchstäblich zu Todesfallen geworden.

In das geschichtliche Gedächtnis der Juden sind Verfolgung, Pogrome und natürlich der Holocaust tief eingeschrieben. Man geht gewiß nicht zu weit, wenn man ihnen ein besonders ausgebildetes Sensorium für Gefahren unterstellt. Vor dem historischen Hintergrund hat es eine besondere Qualität, wenn für sie auch in Deutschland die Verhältnisse ins Rutschen kommen und sie sich einer exklusiv auf sie bezogenen Gewaltdrohung ausgesetzt sehen. Insofern ist es allzu verständlich, daß Levit zwischenmenschliche Solidarität vermißt. Er fügt hinzu: „Ich würde am liebsten alle anschreien: Merkt ihr eigentlich nicht, daß es gegen euch geht? ‘Tod den Juden!’ heißt ‘Tod der Demokratie!’. Wenn ihr an Demokratie glaubt, und euer Land ist an einem Punkt, wo jemand wie ich rennen muß: Dann müßt auch ihr rennen! Daß sich diese Dringlichkeit nicht auf die Straße übersetzt, finde ich erschütternd.“

Nun ist das aggressive Dominanzgebaren moslemischer Zuwanderer im öffentlichen Raum – denn darum geht es doch – keine Neuigkeit. Spätestens seit 2015 hat die Zuwanderung speziell aus islamischen Ländern die Sicherheitslage für sämtliche Normalbürger dramatisch verschlechtert. Erst jetzt, seitdem Gewalt sich speziell gegen Juden richtet, haben die großen Medien das Thema für sich entdeckt, wobei sie auf die Judenfeindschaft fokussiert bleiben und diese als gesamtgesellschaftliches Problem zu verallgemeinern versuchen.

Der Zusammenhang aber, den Levit herstellt, verdient eine psychologische und zeithistorische Vertiefung. Um es auf den Punkt zu bringen: Woher soll Empathie mit anderen – hier: mit Israel, mit jüdischen Betroffenen – denn kommen, wenn die Deutschen nicht einmal mit sich selbst empathisch sein können und ihnen die Fähigkeit dazu systematisch abtrainiert wurde? Aus diesem Grund bilden sie auch keine handlungsfähige Willensgemeinschaft mehr und können sich der Zerstörung des demokratischen Rechtsstaates und ihrer Lebenswelt überhaupt nicht entgegenstellen. 

Der aktuelle Empathie-Mangel hat eine Vorgeschichte. Es war den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vergönnt, die eigenen Leiden – Bomben- und Landkrieg, Millionen Kriegstote, Vertreibung, Gefangenschaft, Teilung usw. – zu realisieren und in gemeinschaftlicher Trauer zu verarbeiten. Trauer war nur in verborgener Privatheit möglich. In der DDR stand das offizielle Totengedenken unter der Losung „Dank Euch, ihr Sowjetsoldaten“. Im wiedervereinten Land wird über angemaßte „Opfermentalität“ und „Selbstviktimisierung“ gehöhnt und „Deutsche Täter sind keine Opfer“ skandiert. Sprüche wie: „Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei“, gelten als zwar überzogene, aber tolerable und tendenziell achtenswerte Meinungsäußerungen. Ende April, Anfang Mai 1945 wurde die vorpommersche Kleinstadt Demmin zum Schauplatz eines Massenselbstmordes mit über 900 Toten. In Angst und Panik über das Wüten der Rotarmisten stürzten Frauen sich mit ihren Kindern in den Peene-Fluß. Am 8. Mai 2016 – in Mecklenburg-Vorpommern offiziell der „Tag der Befreiung“ – warfen Antifa-Aktivisten, die im staatlichen Kampf gegen Rechts die Speerspitze bilden, Sex-Puppen in die Peene, die wie Leichen im Strom trieben. Der Skandal wurde lediglich regional vermerkt. 

Ergo: Die Erkaltung gegenüber der „dehumanisation“ – der Entmenschlichung – der jüdischen Hamas-Opfer, die Levit beklagt, haben seine grünen Gesinnungsfreunde gegenüber deutschen Opfern seit jeher an den Tag gelegt. Eben diese „Unfähigkeit zu trauern“ führt zur eigenen Entmenschlichung, zum Empathieverlust gegenüber sich und anderen und letztlich zu einem totalen Realitätsverlust.

Das Trauerbedürfnis auf die Holocaust-Opfer projizieren

Das faktische Trauerverbot für die eigenen Opfer wurde unter Hinweis auf jene Opfer verhängt, die von Deutschen verursacht worden waren. Darunter nehmen die Holocaust-Toten wiederum eine herausgehobene Stellung ein. Auf sie soll das Bedürfnis nach Trauer projiziert werden. Doch dieses Verfahren kann nicht aufgehen, denn die Realisierung des selbst erfahrenen Leids entlädt sich in expressiven Affekten wie Schmerz, Wut und Erbitterung, die nach Ausdruck und Bearbeitung verlangen, während das Leid, das man anderen zugefügt hat, zu reflexiven Reaktionen wie Scham oder Schuldgefühlen führt. „Scham ist nicht schrill“, mahnte der ungarische Schriftsteller György Konrád (1933–2019), der dem Holocaust um Haaresbreite entgangen war. Das Gedenken an verursachtes Leid kann die Trauer um erlittenes Leid nur ergänzen, nicht ersetzen.

Was hierzulande stattfindet, ist vielmehr eine Kombination aus Verdrängung und einem Rollenspiel, einem heuchlerischen Entweichen in eine Als-ob-Identität, die bei der ersten Belastungsprobe in sich zusammenfällt. Der Extremfall des Spiels ist der sogenannte „Kostümjude“, der nichtjüdische Deutsche, der sich jüdische Identitäten und Opfergeschichten aneignet. Ein anderes Rollenmodell ist der stets wachsame, antifaschistische Philosemitit, der den Antisemitismus auch dort aufspürt und bekämpft, wo es ihn gar nicht gibt. Die von Anfang an wenig glaubwürdige Mitteilung des Sängers Gil Ofarim, er sei in einem Leipziger Nobelhotel antisemitisch diskriminiert worden, hat umgehend Hunderte Demonstranten auf die Straße gebracht. Das sind die gemeinschaftlichen Ersatzhandlungen von Desorientierten, die ihnen temporär jene Nestwärme bieten, die das demoralisierte nationale Kollektiv ihnen vorenthält. Proisraelische Bekundungen versprechen hingegen unter dem Eindruck des Hamas-Terrors und der demographischen Verschiebungen vor Ort statt Nestwärme ein Risiko, das man lieber nicht eingeht.

Auch jüdische Verbandsfunktionäre waren und sind von der Situation heillos überfordert. Wo immer nach 1990 es Versuche gab, deutsche Leidensgeschichten zu thematisieren, waren sie stets mit dem Vorwurf der Holocaust-Relativierung und des Geschichtsrevisionismus zur Stelle und blockierten fatalerweise die notwendige Katharsis, die das Gedenken an jüdische Opfer erst authentisch und belastbar macht.

Wenn Levit jetzt zur deutschen Gesellschaft kein „Grundvertrauen“ mehr fassen kann, hat das ganz wesentlich damit zu tun, daß diese Gesellschaft kein Grundvertrauen zu sich selbst besitzt.

In einem Rundfunk-Interview äußerte Levit sich erfreut über den Zuspruch aus eher konservativen Kreisen. Hoffentlich meinte er nicht Leute wie den früheren Bild-Chef Julian Reichelt, der im Internet-Magazin Nius den Israelis als freundschaftliche Handlungsempfehlung mit auf den Weg gab, sich für den Gazastreifen die alliierten Flächenbombardements auf Deutschland als Vorbild zu nehmen. Die Alliierten „nahmen den Tod Hunderttausender Zivilisten nicht nur in Kauf, sie verursachten ihn ganz bewußt, weil sie der (richtigen) Überzeugung waren, daß es ein befreites und friedliches Europa nur geben könne, wenn Deutschland in jeder Hinsicht gebrochen wäre. Israel steht vor der Aufgabe, vor der auch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg standen: Wie kann es gelingen, den Feind ein für allemal zu vernichten?“ Dazu nur soviel: Der Historiker und Emigrant Golo Mann, der 1945 in amerikanischer Uniform nach Deutschland zurückkehrte, bezeichnete die Bombenangriffe als „nächtliche Massenmorde“. Die Absicht der Kriegsgegner zu feiern, das Land in „jeder Hinsicht“ (!) brechen und „ein für allemal“ (!) vernichten zu wollen, ist Ausdruck einer BRD-typischen masochistischen Moral.

Beinahe verzweifelt resümierte Levit auf Twitter: „Und in all den Jahren hat die Politik mir 24/7 garantiert, daß Judenhaß ‘nie wieder’ geschehen dürfe. Solche Statements, wie dieses hier, sind keine Politik. Kindergarten. Wie soll man das ernst nehmen?“ Nein, das ist kein Kindergarten, die Bundesrepublik bildet längst ein Irrenhaus, dessen Insassen gegen selbsterrichtete Gummiwände sinnlos anrennen.

Die alten Erzählungen taugen politisch nicht mehr

In Berlin tönten junge, mutmaßlich linke Teilnehmer einer Sitzblockade vor dem Auswärtigen Amt: „Free Palestine from german guilt“ („Befreit Palästina von deutscher Schuld“). Die Aussage ist unscharf. Gemeint ist wohl die Aufforderung an die Bundesregierung, sich nicht wegen der NS-Vergangenheit zu einer einseitigen Parteinahme für Israel erpressen zu lassen und damit neue Schuld – an den Palästinensern – auf Deutschland zu laden. Ausgeblendet wird dabei der Hamas-Terror und die Bedrohungslage Israels.

In der Losung steckt wohl auch eine Identifikation mit den Palästinensern in dem Sinne: Sie leiden unseretwegen, und was ihnen – durch Israelis, durch Juden – jetzt angetan wird, das geschieht auch uns. Dahinter mag die verschämte Vorstellung eines indirekten Schuldausgleichs und der heimliche Wunsch stehen, von Schuldvorhaltungen wegen der NS-Verbrechen künftig verschont zu werden. Die Losung könnte weiterhin schlicht bedeuten, daß Israel, das die Palästinenser unterdrückt, allein wegen der deutschen Schuld existiert. Was aber bedeutet dann die Befreiung von ihr? Soll Israel verschwinden?

Auf jeden Fall wird das vage Gefühl formuliert, daß die alten Erzählungen politisch wie lebenspraktisch als Handlungsanweisungen nicht mehr taugen. Doch stehen den Verwirrten kein Realitätssinn und keinerlei Denkmodelle für politische und lebenspraktische Vernunft zur Verfügung. Deshalb könnte es dahin kommen, daß der Ausweg aus dem Wahnsinn in seiner Übersteigerung gesucht wird und es im Land noch viel kälter und bitterer wird, als es heute schon ist.

Und Igor Levit, der gefeierte Pianist, muß sich sagen lassen, daß er mit seinem „gesellschaftspolitischen Engagement“, das zwischen Naivität, Realitätsverkennung und Narzißmus changiert, dazu sein Scherflein beigetragen hat.