© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

Filmkritik Das Auge
Der Detektiv und die Mörderin
Werner Olles

Der Privatdetektiv mit dem Spitznamen „Das Auge“ (Michel Serrault) soll für seine Chefin (Stéphane Audran) die Routineüberwachung eines Playboys erledigen. Bei seinem Auftrag wird er Zeuge, wie dessen Leiche kurzerhand in einem See versenkt wird. Fortan folgt der so sentimental wie zynisch gewordene Schnüffler auf Marlowes Spuren wie besessen der schönen Mörderin (Isabelle Adjani), einer Abenteurerin, die Namen und Wohnorte so häufig wechselt wie ihre Garderobe, die luxuriöse Stätten erotischer Abenteuer ansteuert und vermögende Herren reihenweise tötet. 

Mit der Zeit werden sich beide, der alternde, einsame Detektiv und die skrupellose Schöne, immer ähnlicher. In hemmungslosem Selbstmitleid phantasiert er sie zu seiner vor langer Zeit gestorbenen kleinen Tochter zurecht, während sie über ihren verlorenen Vater deliriert. Daß er sie nicht jagen kann, sondern beschützen wird, ergibt sich von selbst. Grandhotels in Baden-Baden, Monte-Carlo und Rom sind die Stationen von Mord zu Mord. Der Detektiv ist längst zum eifersüchtigen Liebhaber geworden, der sogar das Töten eines liebenswerten, blinden Opfers angesichts ihres Zögerns übernimmt, während sie auf das Liebeswerben einer anderen Frau mit einem Ausbruch von Mordlust reagiert.

Die luxuriösen Schauplätze wechseln schließlich mit einer düsteren nordfranzösischen Industriestadt, die wie in den Zeiten des jungen Jean Gabin Zuflucht und Erfüllungsort für Todessüchtige wird. Während sich der Polizeikordon immer enger um das Paar zieht, vollendet sich das Drama …

Claude Millers Kultfilm „Das Auge“ („Garde à vue“, Frankreich 1981) nach einem gleichnamigen Buch von Marc Behm hat eine langsam, aber stetig wachsende Gemeinde von Zuschauern, die ihn auch mehr als einmal sehen wollen. Tatsächlich läßt erst das mehrfache Anschauen die Doppelbödigkeit des Films erkennen, der das virtuose Spiel mit Zuschauer-Erwartungen genüßlich auskostet, um sie dann ad absurdum zu führen. Daß dadurch die Intensität des Spiels nicht beeinträchtigt wird, beweisen die Schauspieler, allen voran Michel Serrault. „Das Auge“ als lustloser, pensionsreifer Privatschnüffler führt die Handlung konsequent in ein Finale voller pathetischer Wucht, die an den Film Noir des französischen Vorkriegsfilms erinnert. Ein Meisterwerk! 

DVD/Blu-ray: Das Auge. Pidax Film-Klassiker 2023, Laufzeit etwa 116 Minuten