© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

„Was ich zu sagen habe, singe ich!“
Oper: Vor hundert Jahren wurde Maria Callas geboren – die bedeutendste Sängerin des 20. Jahrhunderts
Jens Knorr

Mailänder Scala, 9. April 1958: Maria Callas singt die Titelrolle in Donizettis „Anna Bolena“. Vorausgegangen war eine Hetzkampagne gegen die Sängerin, die am 2. Januar eine Vorstellung von Bellinis „Norma“ wegen ernster Erkrankung hatte abbrechen müssen. Am Ende des ersten Akts, da Anna in Arrest genommen wird, hat sie den Häschern die Worte entgegenzuschleudern: „Giudici! Ad Anna! Giudici“ – „Richter“ Gegen Anna! Richter!“ Callas singt sie direkt gegen das Publikum.

Mailänder Scala, 31. Mai 1958: Callas singt die Imogene in Bellinis „Il Pirata“ in der fünften und letzten Vorstellung der Aufführungsserie. Sie hatte im Sommer 1957 vier Vorstellungen eines Gastspiels der Scala in Edinburgh durchgestanden, eine fünfte Vorstellung jedoch erschöpft absagen müssen. Die hatte der Generalsekretär der Scala dem Festival versprochen, ohne das Einverständnis der Callas eingeholt zu haben, und hätte von ihr auch nicht gesungen werden müssen. Der Intendant der Scala, Antonio Ghiringhelli war der nun einsetzenden Pressekampagne gegen Callas nicht entgegengetreten, hatte die Mißverständnisse nicht aufgeklärt und sich nicht vor seine Mitarbeiterin gestellt.

In der abschließenden Wahnsinnsszene hat Imogene den Galgen zu imaginieren, an dem der Geliebte gehängt wird: „ Là, vedete… il palco funesto.“ Palco bedeutet im Italienischen nicht nur das Schafott, sondern auch die Theaterloge. Callas singt die Phrase mit verachtungsvoller Geste in die Loge des Intendanten hinein, eine Geste des Abschieds. Das Publikum versteht und feiert Callas mit nicht enden wollendem Beifall. Ghiringhelli läßt den Eisernen Vorhang niedergehen.

Dallas Opera, 6. bis 8. November 1958: Callas singt die Titelrolle in Cherubinis „Medea“. Am Tag der Premiere erhält sie ein Telegramm des Managers der Metropolitan Opera New York, Rudolf Bing, der wegen – seitens der Callas fachlich berechtigter! – Differenzen ihren Kontrakt mit dem Haus annulliert. Über die „Medea“-Aufführungen schreibt der Musikkritiker John Ardoin, daß die Zeugen der Aufführungen nicht daran zweifelten, „daß ihr beißender Ton genauso an Bing, als an Jason gerichtet war“.

Callas gegen das Publikum, die Tigerin gegen die Bestie? Callas gegen Ghiringhelli und Bing, zwei Charaktermasken des Opernbetriebs? Ginge es nur um Privatfehden einer Primadonna gegen einen Lederfabrikanten und einen gelernten Buchhändler, beschränkte sich das Nachwirken dieser wirkungsmächtigen Sängerin des vorigen Jahrhunderts auf lediglich ein dankbares Objekt der Theater-anekdote, der Klatsch- und Tratsch-Literatur. Ihre beispielhaften Verkörperungen der Anna Bolena, der Imogene, der Medea und anderer Frauengestalten der Opernliteratur wären heute lediglich noch von musikhistorischem Interesse. Und ganz unverständlich bliebe, daß wir die Interpretationsgeschichte der Oper in die Zeit vor Callas und die Zeit nach Callas einzuteilen haben. Auf welche Gründe und Abgründe also verweisen die drei beschriebenen Bühnenmomente der Callas über den jeweiligen Anlaß hinaus? 

Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulou wird am 2. Dezember 1923 in New York geboren. Den Familiennamen läßt der Vater 1929 in Callas ändern. Die Familie griechischer Einwanderer geht auseinander, die Mutter mit ihren Töchtern zurück nach Athen. Die ehrgeizige Mutter treibt den Ehrgeiz der Tochter an und regiert sie in eine Sängerkarriere hinein. Die entscheidende und auch später wieder konsultierte Lehrerin der zuerst abgewiesenen Studentin am Athener Konservatorium wird die Sopranistin Elvira de Hidalgo. Sie führt Callas in die Kunst des späten Belcanto ein, auf der Opernbühne weitgehend verlorengegangene Gesangstechnik und -stil für die romantische Oper des 19. Jahrhunderts, die Oper Rossinis, Bellinis und Cherubinis, auch noch Donizettis und des frühen Verdi.

Ihre ersten Auftritte absolviert Callas in Studentenkonzerten des Konservatoriums, ihr Bühnendebüt 1939 als Santuzza am Olympia-Theater, Athen. Der Karrierestart verläuft holprig, Vorsingen und Engagements muß sie erkämpfen. Mit Ponchiellis „La Gioconda“ in der Arena di Verona erlebt sie am 3. August 1947 zwar nicht den ersehnten Durchbruch, aber der Dirigent Tullio Serafin wird auf sie aufmerksam. Er erkennt die Potenzen der Sängerin und ihrer Stimme, wird einer ihrer Lehrer, wichtiger Architekt ihrer Karriere, auch väterlicher Freund. Ihr Aufstieg zum Weltruhm datiert von einer Aufführung von Verdis „I vespri siciliani“, 1951 beim Maggio musicale fiorentino, dem Opernfestival in Florenz, unter dem Dirigat von Erich Kleiber. Ihr Weltruhm überdauert die eigentliche Bühnen- und Schallplattenkarriere, die im Grunde schon vor 1965, dem Jahr ihrer letzten Bühnenauftritte, zu Ende gegangen war. Ihre Orte sind das Teatro alla Scala Milano, die Metropolitan Opera, New York, das Royal Opera House Covent Garden, London, nach ihrem letzten Bühnenauftritt am 5. Juli 1965 nur noch das Tonstudio und das Konzertpodium – die Aborte erledigen Boulevardpresse und Romanbiographien.

Die neueste von Eva Gesine Baur handelt das Leben der Callas als einen tragischen Künstlerroman des 19. Jahrhunderts ab, in dem unglückliches Leben und hohe Kunst einander bedingen, private und öffentliche Person, „Maria“ und „Callas“, einander widerlegen. Callas’ vergeblicher Kampf um Veränderung der Produktionsbedingungen ihrer Kunst, die sie in manchen Konstellationen sogar partiell mitbestimmen konnte, die sich ihr gegenüber jedoch letztlich als übermächtig erwiesen, ihr Scheitern an veränderten Marktbedingungen geraten Baur nicht in den Blick. Baur schreibt flüssig und korrigiert auch einige Fehler und Legenden, die sich irgendwann in die Biographik eingeschlichen haben und seitdem immer weitergetragen wurden.

Die Stimme der Callas hatte einen Tonumfang über zweieinhalb Oktaven. Sie war bei mittlerem Volumen von außerordentlicher Durchschlagskraft. Ihr Klang wurde als eckig, scharf, sauer, bitter beschrieben, das Timbre als häßlich und von schneidender Intensität, die Register als unausgeglichen, der Produzent Walter Legge schreibt von drei Stimmen, die Callas besessen habe – positiv formuliert: als sehr individuell. Doch über die künstlerische Bedeutung eines Sängers entscheidet weniger das Stimmaterial denn vielmehr das, was sein Träger, der nicht sein Besitzer ist, daraus macht.

In drei Bereichen hat Callas sich Partien, Auftritte und Rollenverständnis erkämpft. Das sind zum einen die Partien des frühen und mittleren Verdi, zum zweiten die Partien Puccinis und zum dritten die dramatischen Koloraturpartien des italienischen Belcanto. Callas hat die Koloratur aus dem Käfig der flötenden „Nachtigallweis’“ befreit und ihr Sinn und Form zurückgegeben. Da ist kaum eine verzierte Passage in den großen Arien der Belcanto-Soprane, die Callas nicht mit der Emotionalität der Figur in einer Weise aufgeladen hat, daß sich die Frage ihrer Notwendigkeit gar nicht mehr stellt. Callas hat ihrer jede als Baustein der Gesamtkonzeption ihrer jeweiligen Rolle begriffen und ausgearbeitet. Und siehe, es geht von Anna Bolena, Imogene und Medea in ihrem Scheitern, ihrem Verbrechen, ihrem Wahnsinn – und ihren Koloraturen – eine Fremdheit und Gefährlichkeit aus, ein Unberechenbares, die im Hörer ein unsicheres, angstvolles, unglückliches Gefühl auslösen.

Callas ist ihrer Stimme nicht gefolgt, sie hat sich ihrer Stimme bemächtigt. Sie hat sie der Partitur und nicht die Partitur ihrer Stimme anzugleichen versucht. Das ging nicht ohne Opfer. Sie hat den dramatischen Sopran, den lyrischen und den Koloratursopran für eine gewisse Zeit zusammenzwingen können, nicht jedoch auf Dauer. Vorstellungsmitschnitte, insbesondere die frühen aus der Zeit ihrer Gastspiele am Palacio de las Bellas Artes, Mexico City, zeigen einen äußersten Einsatz der Stimme bis an deren Grenzen und über sie hinaus. Die berühmte „Aida“-Aufführung vom 30. Mai 1950, in der sie den Tenor Kurt Baum, eine typische „Rampensau“, am Schluß des zweiten Aktes mit einem interpolierten hohen Es in die Schranken weist, ist vielzitiertes, aber nur ein Beispiel.

Kein Singen ohne Unfall, kein Singen, das sich nicht wie eine Wunde öffnet, keines aber auch, das nicht ebenfalls verletzt. Erfahrung schlägt Wunden. Callas ging es nicht um die Erkenntnis, sondern um die Erfahrung. Die Erfahrungen, die ihr im Leben verweigert wurden, suchte sie auf der Bühne zu machen. Als sie, von den Bühnen verbannt, Erfahrungen im Leben nachholen wollte, scheiterte sie. Der Haß, der sich anläßlich ihrer privaten und geschäftlichen Skandale auf die Frau zu ihren Lebzeiten entlud, galt viel mehr der Künstlerin und der Provokation ihrer Kunst, die dem Frauenbild eines sich konsolidierenden Nachkriegs-Kapitalismus zuwiderlief. Er galt der Meisterin einer Stimme, mit der sie alle Wundmale des Lebens und der Arbeit an ihr zu Ausdruck brachte. Die Liebe, die ihr kaum zu, um so mehr nach Lebzeiten zuteil wurde, galt der Legende und dem Mythos.

Callas erfüllte jedes Klischee der Primadonna und widerlegte es zugleich. Sie interessierte sich für Mode, Fernsehunterhaltung, Schmuck und Nippes, nicht aber für die Fachliteratur, die ihr Regisseur Luchino Visconti gab, damit sie sich über die historischen Umstände von Verurteilung und Hinrichtung der Anna Boleyn kundig mache. Die Literatur hülfe ihr nicht weiter, denn das Wesentliche stünde in den Noten. Erfahrung ging ihr vor Erkenntnis und ihre Arbeitsintensität, ja, Arbeitswut darauf aus, ihre Erfahrungen in den Noten wiederzufinden und in der Partie auszudrücken, in der Rolle aufgehen zu lassen – durchaus mit den begrenzten Mitteln eines aristotelischen Einfühlungstheaters der Regisseure Visconti und Franco Zeffirelli, die Callas’ Auffassung von Theater prägten. Jeder ihrer Rollen suchte sie nicht nur eine gesangliche, sondern eine Bühnenerscheinung zu geben, die nur dieser zugehörig war. Die „Einheit von Musik, Drama und Bewegung“, die der Dirigent Antonino Votto ihr bescheinigt, läßt sich nicht aus persönlicher Betroffenheit, Instinkt und Intuition allein herstellen, sie herzustellen erfordert sängerische Intelligenz, Kenntnis der Partitur, gründliche Vorbereitung auf jede Probe, jede Vorstellung, jede Aufnahmesitzung. Und Kollegialität, die Callas nach übereinstimmenden Zeugnissen immer bewiesen hat.

Sie hat im Singen Befindlichkeiten, Beziehungen jenseits des Wortes artikulieren können, Befindlichkeiten, die oft dem Bereich des Wortes unzugänglich sind. Ihr Denken in Tönen, ihr Denken im Singen ist bisher nur unzulänglich beschrieben oder analysiert worden und beschränkte sich weitgehend darauf, wie sie eine Partie und ihre gesangstechnischen Aspekte erfüllte. Von den 47 Partien, die Callas’ Repertoire umfaßte, sind 33 vollständig auf Tonträgern festgehalten worden. Wie sich in den verschiedenen Aufnahmen ein und derselben Oper die Zeitläufte und, mit Richard Wagner zu reden, „Verhältnisse, nichts als Verhältnisse“ eingeschrieben haben, das zu ergründen bleibt ein Desiderat der ausufernden Callas-Literatur und wäre noch zu leisten. 

Wie wenige Sängerinnen vor ihr und wenige nach ihr hat Callas verstanden, was von den Gestalten des 19. Jahrhunderts in ihr Jahrhundert herüberkam. Und was die Bing oder Ghiringhelli aus dem alten Jahrhundert mit in das neue schleiften. Hat die Gattin von Giovanni Battista Meneghini, die Geliebte von Aristoteles Onassis es verstanden? Wir hören mit Callas eine benutzte und weggeworfene, betrügerische und betrogene, im Verderben ihre Würde neu erringende Frau: Anna Bolena. Wir hören die Flucht in den Wahnsinn vor diesseitigem Schrecken: Imogene. Und nicht nur Imogene. In den Wahnsinnsszenen des Melodramma lirico läßt uns Callas aus der Gesangstechnik die Machttechnik des Wahnsinns heraushören. Wir hören keines Kindsmörderin, sondern eine Frau, die das Eigentum des Mannes zerstört, in das er ihre Kinder und eine neue Geliebte genommen hat: Medea. Hören wir noch Cherubini oder nicht vielmehr Euripides? Wir sehen dieselbe und doch ganz andere Frau Medea in Pasolinis Film von 1969, der Medea und Callas in ikonischen Bildern zur Deckung gebracht hat.

Wenn wir Callas hören, dann hören wir ihre Verknäulung in Umstände, die sie nicht geschaffen, ihr Hineingestelltsein in Zustände, die sie nicht verschuldet, ihr Beladensein mit Bürden, unter denen sie ächzt. „Quanto? … Il prezzo!“ fragt Tosca den Polizeichef von Rom, Scarpia, die Antwort auf die Frage nach dem Preis für das Leben ihres Geliebten wohl wissend. Den Preis für ihre Karriere hat Maria Callas bezahlen müssen. Nach bedrückend hilflosen Schattenkämpfen um Wiederaufnahme einer unwiderruflich zu Ende gegangenen Karriere nimmt sie ein gnädiger Tod aus ihrer Pariser Wohnung, in der sie mit ihren Zwergpudeln, dem Fernsehapparat und Medikamenten auf ihn hingelebt hat. Sie stirbt mit 53 Jahren an einem Herzinfarkt – oder an Einsamkeit und gebrochenem Herzen.

Mit jeder Neuedition ihres klingenden Vermächtnisses, mit jeder neuen Biographie, die wir kaufen, haben wir Teil an dem System, das Callas zu nutzen gedachte, gegen das sie ankämpfte und dem sie unterliegen mußte. Wenn wir dies immer mithörten, könnten wir erfahren und erkennen, was Callas mit ihrem Singen zu sagen hatte.

Eva Gesine Baur: Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2023, gebunden, Abbildungen, 507 Seiten, 29,90 Euro