Fast zwei Wochen nach dem historischen Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse mußten vergehen, ehe sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), von einem Kurz-Video abgesehen, offiziell zu den Folgen des Richterspruchs geäußert hat. Raus aus der Tauchstation, rein ins Plenum zu seiner vielleicht wichtigsten Rede während seiner Amtszeit. Ob der Haushalt 2024 noch in diesem Jahr verabschiedet wird, blieb in der knapp dreistündigen, scharf geführten Debatte am Dienstag offen.
In seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag sprach Scholz von einer „neuen Realität“, da „Hilfen in solchen Notsituationen nun jedes Jahr vom Bundestag neu beschlossen werden müssen – aber auch neu beschlossen werden können“. Er kündigte ein Ende der Strom- und Gaspreisbremsen zum Jahresbeginn an, die eigentlich bis Ende März gelten sollten. Das war es dann auch mit den Neuigkeiten.
Denn der SPD-Politiker vermied es, Konkretes zur Haushaltsplanung 2024 zu sagen, etwa wo genau gespart werden soll. „Mit dem Wissen des Urteils hätten wir 2021 andere Entscheidungen getroffen“, gestand er ein, dessen 25minütige Rede mehrfach von Gelächter unterbrochen wurde. Ein Wort des Bedauerns über den gerichtlich festgestellten Verfassungsbruch brachte der Regierungschef nicht über seine Lippen.
Das begriff Oppositionschef Friedrich Merz wohl als eine Steilvorlage. Es hagelte persönliche Angriffe. Ein „Klempner der Macht“ sei Scholz, der lediglich technische Antworten auf eine hoch politische Entscheidung gegeben habe. „Sie können es nicht“. Genüßlich zitierte Merz das verheerende Presseecho. Vom „Absturz eines Besserwissers“ war da die Rede und von „Tricksereien“. Merz stellte unmißverständlich klar, daß die Union an der Schuldenbremse festhalten will. Es war die Union, die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hatte. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse kann ohne Zustimmung der Union nicht verändert oder gar abgeschafft werden.
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel setzte den harten Schlagabtausch fort, ebenfalls personalisiert auf den Kanzler. „Die Bürger haben in dieser Lage nicht auf Ihre Regierungserklärung gewartet, sondern auf Ihre Rücktrittserklärung“, begann sie ihre Rede, um ihm Wortbruch vorzuhalten. Im Bundestagswahlkampf 2021 habe er als Kanzlerkandidat versichert, bei Speisen in Restaurants und Kneipen bleibe es bei dem ermäßigten Steuersatz von sieben Prozent. „Das schaffen wir nie wieder ab.“ Jetzt plane die Ampel das Gegenteil. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck bekam sein Fett weg. „Ökonomischer Analphabet“. Mit Blick auf die Haushaltskrise sagte Weidel in Richtung Regierungsbank: „Sie haben gar kein Milliarden-Loch (...) Sie haben nicht zu wenig, Sie haben Rekordgesamtsteuereinahmen, mit denen Sie gar nicht umgehen können, wie alle Sozialisten.“ Dietmar Bartsch wunderte sich in seiner wohl letzten Rede als Linken-Fraktionschef, wie unvorbereitet ohne Plan B die Ampel in die Haushaltskrise geschlittert sei.
Erneute Klage der Union ehrer unwahrscheinlich
Während der Debatte wurde deutlich, daß SPD und Grüne im Streit über die Schuldenbremse auf die unionsgeführten Bundesländer setzen. Mehrere Ministerpräsidenten, darunter Kai Wegner (Berlin), Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen), Daniel Günther (Schleswig- Holstein), hatten die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form kritisiert. Letzterer hatte sogar für 2024 erneut eine Haushaltsnotlage festgestellt. „Die Entscheidungen werden hier im Deutschen Bundestag getroffen und nicht im Rathaus von Berlin“, donnerte Merz mit Blick auf seinen „Parteifreund“ Wegner. Ein typischer Merz. Da tut sich ein Konflikt auf in der Union. Hier knallharte Oppositionspolitik, dort Regierungsverantwortung.
Einen Tag vor der Debatte hatte die Ampel-Koalition einen Nachtragshaushalt für 2023 verabschiedet. Im Umlaufverfahren. Das heißt, der Etat wurde in aller Eile ohne vorherige Zusammenkunft der Ressortchefs beschlossen. Ein Nachtragshaushalt ist eine nachträgliche Veränderung eines bereits vom Parlament beschlossenen Etats. „Es geht um die Heilung eines Rechtsverstoßes, der eintreten würde, wenn wir jetzt nichts machen würden“, hieß es im Finanzministerium. Nach dem Gerichtsurteil hätten Kredite in Höhe von 45 Milliarden Euro, unter anderem für die Energiepreisbremse, von Scholz „Doppel-Wumms“ genannt, nicht aufgenommen werden dürfen.
Voraussetzung für den Nachtragshaushalt ist, daß der Bundestag eine außergewöhnliche Notlage erklärt und die Schuldenbremse – zum vierten Mal – aussetzt. Woran kein Zweifel besteht. Bundesfinanzminister Christian Lindner begründet die Notlage mit dem „Krieg in der Ukraine und dem damit verbundenen Energiepreisschock, der auch noch 2023 deutlich spürbar“ gewesen sei. Zur Erinnerung: Noch Anfang Juli hatte er vor der Bundespressekonferenz vollmundig eine Notlage in Abrede gestellt. „Mit dem Nachtragshaushalt 2023 ziehen wir die Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts“, räumte der oberste Kassenwart der Nation jetzt ein. Ob auch der Haushalt 2024 wie nach allgemeiner Praxis zum Ende des Vorjahres, also noch im Dezember, verabschiedet werden kann, ist höchst fraglich. Angesichts zweier Etats ist im Parlament von einem „Haushalts-Tsunami“ die Rede.
Die Oppositionsfraktionen werden dem Nachtragshaushalt nicht zustimmen. Eine neuerliche Verfassungsklage der Union, die aufgrund ihrer Fraktionsgröße antragsberechtigt ist, gilt als unwahrscheinlich. „Das heißt nicht, daß wir dem Haushalt zustimmen. Das sehe ich nicht“, betonte CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz und ergänzte: „Aber die Frage, ob wir dagegen klagen, sehe ich im Augenblick auch nicht gestellt.“ Der AfD-Haushaltspolitiker Peter Boehringer bezweifelte die Handlungsfähigkeit der Koalition. Er forderte einen Nachtragshaushalt 2023, der „Einsparungen für die verfassungswidrig vorgenommenen Ausgaben“ vorsieht. Danach könne ein Haushalt 2024 folgen.
Damit ist die Ampel längst beschäftigt, wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte. Kern- und Streitfrage ist, ob die Schuldenbremse auch 2024 ausgesetzt wird. So wollen es SPD und Grüne, die FDP ist dagegen. „Sparen ist das Gebot der Stunde“, mahnte Fraktionschef Christian Dürr. Die Schuldenbremse dürfe nicht angetastet werden. Der grüne Koalitionspartner warnt davor, das Land „kaputtzusparen“. Ähnlich sieht es auch die Linke. Und die Union? „Wenn die Bundesregierung der Meinung ist, daß sie auch für 2024 eine außergewöhnliche Notlage feststellen lassen sollte, dann sehe ich dies nicht als verfassungskonform an, jedenfalls aus heutiger Sicht“, erklärte Merz. Dann werde die Union dagegen gegebenenfalls wieder vorgehen.
Auch zur Einrichtung von Sondervermögen ähnlich dem im Grundgesetz verankerten 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr äußerte er sich kritisch. Dies sehe er „im Augenblick auch nicht. Ich wüßte nicht wofür.“ Die Union habe zudem „kein Vertrauen mehr in die Zusagen der Bundesregierung, wenn es um die Ausgestaltung solcher Sondervermögen geht“.
Rücktritt? Neuwahlen? Die Schockwellen des Karlsruher Urteils erreichten auch die Chefetage des Finanzministeriums. Lindner feuerte seinen beamteten Staatssekretär Werner Gatzer. „Mister Haushalt“ diente dem Ministerium seit 2005. Unter vier Ministern. Der „ewige Staatssekretär“ gilt als Erfinder jenes Buchungstricks, mit dem die Regierung die Schuldenbremse umgehen wollte. Zum Abschied gab es vom Amtschef noch ein paar warme Worte für den altgedienten Genossen. Er habe sich „mit hohem persönlichem Engagement und viel Energie für das BMF und den Bundeshaushalt eingesetzt“. Ein Bauernopfer. Von Amtschef Lindner sind Worte der Selbstkritik bisher nicht überliefert.
Dafür mag ihm die Zeit fehlen, denn erstmals während seiner zehnjährigen Amtszeit als Parteichef wird Lindner in Frage gestellt. Dem früheren Bundestagsabgeordneten Matthias Nölke ist angesichts der FDP-Niederlagenserie bei den Landtagswahlen der Kragen geplatzt. „Das Festhalten an der Ampel ist unser Todesurteil.“ So sorgt er mit seiner Aktion „Ampel beenden“ für Unruhe in der „liberalen Familie“. In den vergangenen Wochen haben der Parteirebell und seine Mitstreiter 500 Unterschriften gesammelt, so daß die 70.000 Mitglieder befragt werden müssen, ob sie für oder gegen einen Verbleib der FDP in der Ampel sind. Das Votum ist für die Parteispitze nicht bindend, schwächt aber die Außendarstellung der FDP.