© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/23 / 01. Dezember 2023

Den Oberbürgermeister an die Leine gelegt
Gegenwind für Grüne: Überraschend hat die SPD die Koalition im Rat der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover aufgekündigt
Werner Becker

Eben noch umjubeltes Aushängeschild der „Verkehrswende“ und gefragter Interviewpartner auf dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe, kurze Zeit später das vom Koalitionspartner zu Hause sitzengelassene Stadtoberhaupt: Für Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) muß der Beginn dieser Woche ein Wechselbad der Gefühle gewesen sein. 

Nachdem die SPD überraschend am Sonntag die rot-grüne Koalition im Rat der niedersächsischen Landeshauptstadt beendet hat, steht Onay nun ohne eigene Mehrheit da. Damit fehlt dem Oberbürgermeister auch die Rückendeckung für sein ambitioniertes kommunalpolitisches Ziel: die komplette Innenstadt Hannovers autofrei zu machen. Sämtliche Parkplätze sollten nach den Plänen der Grünen wegfallen, kein Auto mehr durch die City rollen, ausgenommen seien der Taxi- und Lieferverkehr sowie Fahrzeuge für Menschen mit Behinderung. 

Das wiederum rief nicht nur bei Wirtschafts- und Gewerbeverbänden heftige Kritik hervor, es  hagelte auch Proteste der Bürger. Weil die SPD aber offenbar für die Profilierung des Stadtoberhaupts nicht in Mithaftung genommen werden möchte, zog die Partei die Reißleine. Die Koalitionsarbeit sei von Mißtrauen und diversen Konflikten geprägt gewesen, hieß es aus der Partei. Sie sei in den radikalen Stadtumbau nicht eingebunden gewesen. Der SPD-Vorsitzende Adis Ahmetovic sprach von einem „klaren Bruch des Koalitionsvertrags“ und warf den Grünen „ideologische Starrheit“ vor.

Die wiederum entgegnen, der plötzliche Bruch komme „inmitten konstruktiver Gespräche und stellt die Stadtgesellschaft vor eine politische Krise“. Der Vorsitzende der AfD in der Region Hannover, der Bundestagsabgeordnete Dirk Brandes, mutmaßt, die SPD sei aus Panik wegen der aktuellen Umfrageergebnisse auf Distanz zu den „wahnsinnigen Plänen einer autofreien Innenstadt“ gegangen. 

Wechselnde Mehrheiten anstatt Rot-Grün

Im Rathaus stellt die SPD mit 19 Sitzen die stärkste Fraktion. Sie kündigte an, nun mit wechselnden Mehrheiten regieren zu wollen und dabei vor allem auf CDU (13 Mandate) und FDP (vier) zu setzen. Die Grünen, mit 18 Abgeordneten zweistärkste Kraft, fühlen sich ausgebootet und betonten, sie wollten die Koalition fortsetzen. 

Onay hatte sich durch einen Pakt mit der „Letzten Generation“ von weiteren Blockade-Aktionen der Klima-Kleber freigekauft und damit bundesweit für Aufsehen – und Kritik – gesorgt. Sein Plan, Mitte 2024 mit den Umbauarbeiten für die autofreie Innenstadt zu beginnen, dürfte jetzt schwieriger umzusetzen sein.

Für die Sozialdemokraten ist der wilhelminische Rathaus-Prachtbau am Maschsee ohnehin ein Stachel im Fleisch. Denn über Jahrzehnte stellten sie dort den Oberbürgermeister. Legendär etwa war Herbert Schmalstieg, der von 1972 bis 2006 auf dem Chefsessel saß und damit nach wie vor der Oberbürgermeister einer bundesdeutschen Großstadt ist, der am längsten ununterbrochen im Amt war. Von 2006 bis 2013 amtierte dort dann der derzeitige Ministerpräsident Stephan Weil. Mit seinem Genossen und Nachfolger Stefan Schostok begann 2019 der schmerzliche Abschied von der Macht. Sein Name ist untrennbar mit der sogenannten „Rathaus-Affäre“ verbunden, bei der es um rechtswidrige Zuwendungen für seinen Büroleiter in Höhe von rund 49.000 Euro ging. 

Mit der Wahl des Grünen Onay im selben Jahr endete die 70jährige „rote“ Herrschaft im Rathaus.