Im Herbst 1943 sieht die Luftwaffenführung noch einmal eine Chance, die Luftherrschaft über dem Reich zurückzuerobern. Düsenflugzeuge sollen die Wende bringen. Tüfteln Heinkel, Messerschmitt und Junkers bereits seit Jahren an mit Turbinenluftstrahltriebwerken ausgestatteten Flugzeugen, scheint jetzt mit der Messerschmitt 262 ein zweistrahliger Jäger technisch so weit ausgereift zu sein, daß sich Reichsmarschall Hermann Göring, Oberkommandierender der Luftwaffe, durchringt, diesen am 26. November 1943 Adolf Hitler vorzustellen. Dieser sollte grünes Licht für die Serienproduktion geben. Hitler zeigt sich begeistert. Immerhin erreicht die Me 262, ausgestattet mit zwei Strahltriebwerken vom Typ Jumo 004 der Junkerswerke, eine Spitzengeschwindigkeit von 870 km/h und ist damit rund 200 km/h schneller als die schnellsten Propellermaschinen. Konstrukteur Willy Messerschmitt persönlich stellt die Leistungen der Maschine vor. Entsprechend seiner Weisung vom Februar 1943, daß neue Jäger auch als Jagdbomber zur Bekämpfung von Bodenzielen einsetzbar sein müssen, stellt Hitler dem Konstrukteur die aus Sicht vieler Historiker schicksalhafte Frage: Ob die Maschine auch Bomben tragen könne?
Die Entwicklung der Jets hatte lange Zeit keine hohe Priorität
Wahrheitsgemäß bejaht Messerschmitt. Hitler wiederum weiß um die hohen Verluste an Jagdflieger-Piloten und die Idee der Luftwaffenführung, die alliierten Bomberpulks nicht erst im deutschen Luftraum anzugreifen, sondern bereits auf ihren Heimatbasen zu bekämpfen. Die Vorstellung eines überschnellen Flugzeuges, das auch mit Bomben ausgestattet werden kann, wie der Konstrukteur versichert, ist für Hitler ein Wink des Schicksals. Er ist sich sicher, daß dieser angebliche Abfangjäger in Wahrheit der die Wende bringende Blitzbomber ist. Warum Göring und Generalluftzeugmeister Erhard Milch den Diktator nicht darauf hinweisen, daß eben eine solche Maschine mit der ebenfalls strahlgetriebenen Arado 234 in der Entwicklung ebenso weit fortgeschritten war wie die Me 262, bleibt deren Geheimnis. Andererseits hat Messerschmitt entsprechend der Führer-Weisung für die Me 262 auch eine Variante als Jagdbomber geplant, und überdies war es der Konstrukteur selbst, der Hitler im Juni und September 1943 von der Entwicklung eines Düsenbombers vorschwärmte – um die Konkurrenz von Heinkel auszuschalten.
Hitler stimmt jedenfalls der Massenfertigung der Me 262 zu, allerdings als Bomber. Dieser soll die Luftwaffe wieder offensiv werden lassen und für die Bekämpfung der erwarteten alliierten Landung bereitstehen. Entsprechend dem Wunsch seines Führers ordnet Göring zehn Tage später die weitere Entwicklung als „Blitzbomber“ an. Der Legende nach verzögert das die Entwicklung und Serienproduktion des zweistrahligen Jägers, so daß dieser keine entscheidende Wende im Luftkrieg mehr erzielen kann. So kolportieren es Fliegerasse wie Adolf Galland, Johannes Steinhoff oder Nicolaus von Below nach Kriegsende, und von diesen übernehmen es Historiker und Journalisten. Noch Paul Kennedy schreibt in seinem 2013 erschienenen Buch „Die Casablanca-Strategie“: Was Milch und Speer zusätzlich an Jägern bauen ließen, sei trotz Hitler geschehen, so Kennedy und führt als Quelle David Irvings Buch „Die Tragödie der deutschen Luftwaffe“ von 1972 an. Dieses beruht aber auf den Aufzeichnungen und Erinnerungen von Feldmarschall Milch. Und für die Welt ist die Geschichte der Me 262 „vor allem ein Lehrstück über eine verpaßte militärische Chance“, denn mit diesem Flugzeug „hätte die alliierte Luftoffensive vielleicht gestoppt werden können“, so Ernst Schneider in seinem Beitrag „Mit diesem Wutanfall verlor Hitler den Luftkrieg endgültig“. Aber stimmt das? Hat Hitler tatsächlich mit seiner Forderung, die Me 262 zum Jagdbomber (für die sie konstruktiv nicht geeignet war) umzubauen, die rechtzeitige Serienproduktion des überlegenen Düsenjägers verhindert oder haben Göring und Milch nicht einfach der Entwicklung von Düsenjets kaum Beachtung geschenkt?
Der Entwicklungsauftrag für ein luftstrahlgetriebenes Jagdflugzeug an Heinkel und für Schubturbinen an Junkers sowie BMW wird im Herbst 1938 beziehungsweise kurz vor Kriegsausbruch erteilt, hohe Priorität hatte er nie. Die Entwicklungen bleiben so geheim, daß nicht einmal Adolf Galland, als General der Jagdflieger für die technische Ausstattung der Luftverteidigung zuständig, davon erfährt. Als dieser dann den Prototypen einer Me 262 selbst fliegt, ist er begeistert: „Diese fast unglaubliche technische Überlegenheit ist das Mittel, das den Kampf um die Luftüberlegenheit über dem Reich und später auch an den Fronten trotz eigener zahlenmäßiger Unterlegenheit zu unseren Gunsten zu entscheiden in der Lage sein wird. Keine Anstrengung und kein Risiko darf gescheut werden, um sofort die Serie vorzubereiten und die Produktion so schnell wie möglich anlaufen zu lassen.“
Galland dringt darauf, daß die ersten 100 Maschinen sofort an der Front getestet und im Einsatz von ihren Kinderkrankheiten befreit werden sollen. Das aber will Göring nicht ohne die Zustimmung Hitlers verantworten, zumal Galland die Serienfertigung des bisherigen Standardjägers der Luftwaffe, der Messerschmitt Bf 109 zugunsten der Me 262 einstellen will. Nach Hitlers Entscheidung rüstet Messerschmitt die Me 262 als Bomber um. Die praktischen Auswirkungen bleiben gering, da Messerschmitt schon vor dem 26. November 1943 eine Großserienfertigung nicht vor November 1944 in Aussicht gestellt hat.
Größere Zahl hätte Bombenkrieg entscheidend behindern können
Letztlich werden bis 30. November 1944 212 Blitzbomber sowie 228 Jagdflugzeuge produziert, anschließend nur noch Jäger. Denn im Herbst vollzieht Hitler eine Kehrtwende. Er läßt jetzt den Bau von Bombern stoppen. Das Jägernotprogramm sieht die Massenproduktion von Abfangjägern vor. Von Januar 1945 bis zum 10. April werden noch 865 Strahljäger gebaut, insgesamt also 1.433 Me 262. Von ihren Kinderkrankheiten kann der Jet nicht geheilt werden. Die Triebwerke bleiben anfällig. Wegen der hohen Geschwindigkeit können die Bordwaffen nur kurz auf das Ziel einwirken und die Wirkung der ungelenkten Luft-Luft-Raketen bleibt unter den Erwartungen, auch die Abschußquote insgesamt. Trotzdem sagt Galland nach dem Krieg, mit nur 300 Me 262-Düsenjägern hätten „wir an jedem einzelnen Tag mindestens 200 Bomber abschießen können. Wenn dies eine Woche oder zwei Wochen lang so angehalten hätte, hätte man die Bombardierungen Deutschlands bei Tage aufgeben müssen.“ Daß letztlich nie mehr als 100 einsatzbereite Maschinen gleichzeitig der Truppe zur Verfügung stehen, liegt an Problemen bei der Fertigung, am Treibstoffmangel, fehlenden Ersatzteilen und Piloten, aber nicht an Hitlers Bomber-Befehl.