© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Flucht auf den Felsen nationaler Größe
Kiewer Geschichtsklitterung
(dg)

Wie in totalitären Regimen üblich, durchdrang auch die marxistisch-leninistische Ideologie das gesamte Institutionensystem der Ostblockstaaten. Erst in den 1980ern sei der Glaube an die Realisierbarkeit der kommunistischen Utopie selbst in den Führungsschichten der Staatsparteien geschwunden, wie der damals an der HU Berlin, heute in Wien lehrende Politologe Dieter Segert sich erinnert (Berliner Debatte Initial, 34/2023). In das so entstandene ideologische Vakuum stießen nach 1989 alternative Sinnangebote. Als das wirkungsmächtigste unter ihnen erwies sich die Idee der Nation. Die Entwicklung der seit 1991 unabhängigen Republik Ukraine liefere für solche Flucht auf den vermeintlich sicheren Felsen der eigenen nationalen Größe ein prägnantes Beispiel, denn diese sei nur durch massive Geschichtsklitterung geglückt. So habe die sich unter Präsident Viktor Juschtschenko seit 2005 verstärkende Geschichts- und Symbolpolitik nicht nur die primär westukrainische Identität des Bandera-Nationalismus der Zwischenkriegszeit der Gesamtukraine oktroyiert, sondern auch einen kulturpolitischen Prozeß eingeleitet, der unter Präsident Selenskyj schon vor dem Beginn des Krieges mit Rußland darauf angelegt war, das 70jährige kulturelle Erbe der Sowjetukraine als Teil der eigenen Geschichte auszulöschen. 


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