© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Der rachsüchtige Tiger
Serie Bewegende Köpfe, Teil 2: Nicht nur in Versailles 1919 zeigte der französische Politiker Georges Clemenceau seine Unerbittlichkeit
Rainer F. Schmidt

In der Bildsymbolik der Nationen werden die Staaten mitunter als Tiere dargestellt: der britische Löwe, der amerikanische Adler, der russische Bär und der gallische Hahn. Er entsprach keinem dieser Wappentiere, obschon er seine Nation wie kein zweiter verkörperte. Er war der „Tiger“. So nannten ihn seine glü-henden Anhänger mit Verehrung und Bewunderung und seine Feinde mit Abscheu und Haß. 

Er stammte aus der Peripherie seines Landes: aus dem waldreichen Westen, unweit der Meeresküste, wo er 1841 geboren wurde. Aber in ihm verdichtete sich der Freiheitskampf seines Volkes wie in keinem anderen: der Aufstand gegen die Tyrannei im Innern und die Unbeugsamkeit gegen die Usurpation von außen; der unerbittliche Kampf gegen Verräter und das harte, unduldsame Durchgreifen gegen alle Defätisten und Feinde der Nation. Dabei sah er aus wie ein freundlicher Großpapa: mit seinen klaren blauen Augen, seinem struppigen, weißen Schnauzbart, seiner abgewetzten Kappe und seinem runden, Güte und Gemütlichkeit ausstrahlenden Gesicht. Darunter aber verbarg sich ein Vulkan, der mit seinem Lavastrom an glühenden Worten und zündenden Parolen das Volk aufrüttelte und mit sich fortriß. Das machte ihn zum Schrecken der Regierung, wenn er in der Opposition war, und zur Geißel für seine Gegner, wenn er an der Regierung war. Niemals machte er eine Pause, war nie auf der Suche nach Ausgleich, immer nur Kampf und Konfrontation: mit dem Peitschenhieb seiner Zunge, dem Gift seiner Feder oder – in zahllosen Duellen – mit dem Degen oder der Pistole 

Die Krallen dieses Tigers wurden im Glutofen eines Jahrhunderts geschärft, das voller Skandale und Verschwörungen war, voller Intrigen und Meineide. Eine Regierung gab der anderen die Klinke in die Hand. Royalisten, Bonapartisten, Republikaner und Sozialisten gingen sich unversöhnlich an die Gurgel und fochten blutige Bürgerkriege aus. Eine ganze Reihe von Regierungen brachte er zu Fall, indem er im letzten Viertel des Jahrhunderts ihre Korruptionsaffären ans Licht der Öffentlichkeit zerrte. An seiner Tür hingen die politischen Skalps von einem knappen Dutzend Ministern, deren Intrigen und Verfehlungen er ruchbar gemacht hatte. Und als er nach der Jahrhundertwende für drei Jahre selbst für die Radikalsozialisten zum Innenminister und Regierungschef avancierte, bekamen die streikenden Arbeiter, die streikenden Lehrer und Postangestellten seinen kompromißlosen Gerechtigkeitssinn zu spüren. Unser Land, so ließ er sich vernehmen, gründet sich auf Eigentum und nochmals Eigentum. Gegen die einen setzte er Truppen ein, was zu zwanzig Toten und fast 700 Verletzten führte. Und die anderen brachte er mit der Drohung der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis zur Räson.    

Dabei hatte er ursprünglich gar keine politische Karriere angestrebt. Er hatte ein Medizinstudium absolviert, als Arzt gearbeitet und dann eine Art von Privatpartei gegründet, die er „Handle, wie du denkst“ taufte. Erst mit Anfang 30 war er in die Arena der Politik getreten. Zu diesem Zeitpunkt war er schon mehrfach in Haft gewesen. Er hatte in Connecticut, in Neuengland, wo er in den 1860er Jahren als Lehrer an einer Mädchenschule seine Schülerin Mary Plummer heiratete, mit ihr drei Kinder gezeugt. Und er hatte als Journalist politische Blätter ins Leben gerufen, deren Namen schon andeuteten, wofür er als Radikalsozialist eintrat: Die Arbeit, Die Gerechtigkeit und Die Morgenröte.

Als junger Bürgermeister von Montmartre, dem Künstlerviertel von Paris, hatte er dann ganz hautnah die Beschießung 1871 durch die Kanonen der Preußen erlebt. Damals, inmitten von Pulverdampf und stöhnenden Verwundeten, hatte er sich geschworen, diese Schmach dereinst zu rächen; dafür zu sorgen, daß sich so etwas niemals wiederholen konnte. 

Als sich die Nation dann, nach dreijährigem erfolglosen Ringen im Weltkrieg 1917 endlich an ihn, den mittlerweile 76jährigen, unbeugsamen Greis erinnerte, als Meutereien an der Front und Streiks im Land den Kampfesmut fast zum Erliegen gebracht hatten, war die Stunde der Abrechnung endlich gekommen. „Ich werde vor Paris kämpfen, ich werde in Paris kämpfen, ich werde hinter Paris kämpfen“, so ließ er sich vernehmen, nachdem er das Parlament an die Kandare genommen, die Streik- und Protestbewegung gegen den Krieg niedergeworfen und mit harter Hand die kriegsmüden Massen wieder aufgerichtet hatte. 

Jetzt ließ er seiner Rache freien Lauf. Die Geschwindigkeit des Eisenbahnzuges, der die deutsche Delegation zur Unterwerfung heranschaffte, ließ er inmitten der Trichterlandschaften des Krieges immer wieder auf Schrittempo drosseln, damit jeder die angerichteten Zerstörungen genau studieren konnte. Im „Hotel des Réservoirs“, das er den Deutschen zugewiesen hatte, ließ er die Heizung abstellen, so daß alle in dicken Wintermänteln mit Wollmützen wochenlang frierend herumsitzen mußten. Die Wände hatte er mit Wanzen bestückt, so daß sich die Delegierten nur durch die überlaute Musik Richard Wagners vor dem Abhören schützen konnten, genauso wie vor den Beleidigungen, die er ihnen jeden Tag durch Hunderte von Demonstranten vor dem Gartenzaun und den vergitterten Fenstern lautstark entgegenschleudern ließ. 

Für den 28. Juni 1919, den „Tag der Abrechnung“, hatte er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. In einer Fensternische, direkt hinter dem Tisch, an dem die Deutschen den ihnen auferlegten Frieden unterzeichnen mußten, hatte er lebende Denkmäler des Schreckens aufgestellt: fünf grausam zugerichtete Männer in Soldatenuniform, deren Gesichter durch Granaten zerfetzt worden waren. Diese Gesichtsversehrten waren „Zeugen des Krieges, Kläger und Richter“ in einem, wie man es am Folgetag in der Zeitung lesen konnte.

Beim Friedensschluß glückte ihm dann zwar die Verhängung unlimitierter Reparationszahlungen und die teilweise Besetzung des Feindeslandes, nicht aber die Zerstückelung des Deutschen Reiches. Aber er hatte eine Beistandszusage seiner Kriegsverbündeten in der Tasche. „Ich mache eine Vorhersage“, so prahlte er im Kabinett: „Deutschland wird Bankrott machen, und wir werden bleiben, wo wir sind – mit dem Bündnis. Schreiben Sie dies, um mich daran zu erinnern, auf meinen Grabstein, wenn ich gestorben bin.“ Es kam anders. Kurz vor seinem Tod 1929 gestand er einem Journalisten verbittert: „Jeden Tag klettere ich aufs Dach und schaue, ob die Deutschen schon kommen.“ 






Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.