© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Krisenherd Taiwan
Nahe am Siedepunkt
Gerd Seidel

Neben dem Ukraine-Krieg und dem Nahostkonflikt schwelt in Fernost seit geraumer Zeit ein anderer Konfliktherd, der ebenfalls das Potential für einen Weltenbrand in sich trägt. In der Auseinandersetzung um die Insel Taiwan stehen sich vor allem die beiden Atommächte China und die USA gegenüber. Umstritten ist dabei im Kern der Anspruch der Volksrepublik China, die Republik China (Taiwan) als Teil des eigenen Staatsterritoriums zu betrachten. Daraus ergibt sich die Frage, wie diese Ein-China-Politik der Volksrepublik aus rechtlicher und politischer Sicht zu werten ist.

Dazu ist zunächst zu klären, ob Taiwan die Qualität eines Staates hat oder nur ein De-facto-Regime ist, wie man häufig hören kann. Daraus ergibt sich, ob zwischen der VR China und der Republik China eine völkerrechtliche oder eine staatsrechtliche Beziehung besteht. Bei der Feststellung, ob eine bestimmte Gebietseinheit ein Staat ist, orientiert sich das Völkerrecht an der Drei-Elemente-Lehre. Danach ist ein Gebietsverband ein Staat, wenn ein seßhaftes Volk auf einem umgrenzten Gebiet durch eine effektive von dritten Staaten unabhängige Staatsgewalt organisiert wird. Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt sind also die konstituierenden Säulen eines Staates. Weitere, etwa inhaltliche Qualitätsmerkmale verlangt das Völkerrecht nicht.

Die völkerrechtliche Anerkennung durch andere Staaten ist nach übereinstimmender Auffassung keine Voraussetzung für die Staatlichkeit. Das gilt im Prinzip auch für die Anzahl der diplomatischen Vertretungen, wenngleich sie im Hinblick auf das Ansehen und die Handlungsfähigkeit des Staates eine Rolle spielen kann. Schließlich spielt auch die Mitgliedschaft in der Uno für die Feststellung der Staatsqualität eine nachgeordnete Rolle. So steht außer Zweifel, daß die beiden deutschen Staaten und die Schweiz lange vor ihrer UN-Mitgliedschaft vollwertige Staaten waren. Ein Staat ist mit seiner Gründung per se souverän, auch wenn er später einzelne souveräne Rechte freiwillig abtreten kann.

Überträgt man diese Aussagen auf unseren Fall, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß Taiwan ein souveräner Staat ist. Seine Grenzen und das Staatsvolk sind klar definiert, die Staatsgewalt ist effektiv. Die Handlungsfähigkeit der Republik China ist allerdings dadurch eingeschränkt, daß sie wegen des internationalen Drucks seitens der Volksrepublik daran gehindert wird, ihre diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten und zu internationalen Organisationen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Lediglich zu zwölf (zumeist Klein-)Staaten und dem Heiligen Stuhl kann Taiwan gegenwärtig diplomatische Beziehungen unterhalten. Auch Deutschland unterhält als Taiwans bedeutendster europäischer Handelspartner in Taipeh nur Vertretungen unterhalb der diplomatischen Ebene. Diese von Taipeh nicht selbst gewählte diplomatische Isolation hat dazu geführt, daß Taiwan oft als De-facto-Regime bezeichnet wird. Das ist aber deshalb nicht gerechtfertigt, weil ein De-facto-Regime gemeinhin dadurch gekennzeichnet ist, daß es keine voll ausgebildete Staatlichkeit besitzt, weil z.B. eine dauerhafte Herrschaftsgewalt fehlt oder die Grenzen ungeklärt sind. Deshalb gelten die De-facto-Regime nur als partielle Völkerrechtssubjekte, die – wenn überhaupt – Beziehungen zu anderen Staaten nur unterhalb der diplomatischen Ebene unterhalten.

Betrachtet man die seit Jahrzehnten bestehende auf einem Mehrparteiensystem beruhende relativ stabile Staatlichkeit von Taiwan, dann sind Zweifel angebracht, ob die Einordnung als De-facto-Regime ernsthaft zu vertreten ist. Denn mit dieser Einstufung wird Taiwan letztlich auf die gleiche Ebene gestellt wie u.a. Nordzypern, Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Puntland und Somaliland. Diese Gebilde existieren nur durch die Hilfe von Drittstaaten, ohne die sie nicht überlebensfähig wären. Im vorliegenden Fall von Taiwan ist die Zuordnung als de facto-Regime vor allem deshalb problematisch, weil es sich dabei um einen Staat handelt, der als hochentwickelter Industriestaat gerade keine Unterstützung von außen benötigt, sondern im Gegenteil von Peking an der eigenständigen Gestaltung seiner Außenbeziehungen gehindert wird. Wichtig ist aber in diesem Zusammenhang eines: Taiwan steht in jedem Fall – auch wenn es als De-facto Regime bezeichnet wird – unter dem Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbotes der UN-Charta. Das heißt, kein Staat, auch nicht die Volksrepublik China, darf gegen Taiwan Gewalt anwenden oder androhen, egal welchen Status man Taiwan zuordnet. Andererseits muß freilich auch Taipeh auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt verzichten.

Im Unterschied zu Macao und Hongkong, die von ihren ehemaligen Kolonialmächten zu vertraglich ausgehandelten Bedingungen an China übertragen wurden, steht Taiwan mit 23 Millionen Einwohnern heute als souveräner Staat ohne jegliche „Schutzmacht“ dem Goliat auf dem Festland mit 1,3 Milliarden Einwohnern gegenüber. Statt der Formel „Ein Staat – zwei Systeme“ postuliert Peking gegenüber Taipeh kategorisch die Ein-China-Politik. Diese Ein-China-Politik gegenüber Taiwan bedeutet, daß alle Staaten, die diplomatische Beziehungen zu China aufnehmen wollen, dessen Rechtsposition anerkennen und übernehmen müssen, wonach Taiwan zur Volksrepublik und damit zu deren inneren Angelegenheiten gehöre. Demgemäß werden alle anderen Staaten sowie internationale Organisationen verpflichtet, diese Rechtsposition zu teilen. Peking duldet keine gleichrangigen Beziehungen eines dritten Staates zur Volksrepublik und gleichzeitig zu Taiwan. Litauen hat kürzlich zugelassen, daß in Vilnius ein „Taiwanesisches Verbindungsbüro“ eröffnet wurde und umgehend die Konsequenzen zu spüren bekommen: Peking hat die diplomatischen Beziehungen zu Litauen auf Eis gelegt und Litauen aus dem Handelsregister gelöscht.

Als die Volksrepublik 1971 gemäß UN-Resolution 2758 als Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen aufgenommen wurde, hat sich auch die Uno diesem Diktum der Volksrepublik gebeugt und sie als alleinige Vertreterin von China aufgenommen. Eine Aussage zum Status oder zur weiteren Behandlung von Taiwan wurde in diesem Zusammenhang nicht getroffen. Taiwan hatte bis dahin als „Republik China“ Gesamtchina in der Uno vertreten. Taipeh hat inzwischen den Alleinvertretungsanspruch aufgegeben. Seine Versuche nach 1971, eine eigene UN-Mitgliedschaft zu erwerben, sind jeweils im Ansatz gescheitert. Daß es in Taiwans Bevölkerung nur eine geringe Bereitschaft zur Vereinigung mit dem Festland gibt, hängt sicher mit der unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklung und Sozialisierung  beider Länder zusammen: Von 1895 bis 1945 stand Taiwan unter japanischer Herrschaft. Auch in der Zeit danach war das Verhältnis beider China vorwiegend von Gegnerschaft geprägt. Von einer Wiedervereinigung könnte also kaum die Rede sein.

Im Antisezessionsgesetz des Nationalen Volkskongresses von 2005 wird von Peking zwar die friedliche Vereinigung mit Taiwan als vorrangig anzustrebendes Ziel genannt. Und dazu wird auch ein Stufenprogramm zur ständigen Verbesserung der Beziehungen beider Länder entwickelt. Für den Fall aber, daß die „Möglichkeiten einer friedlichen Wiedervereinigung“ vollständig erschöpft sind, würden auch „nichtfriedliche Maßnahmen“ zur Anwendung gelangen. Da es sich im Verhältnis beider China zueinander um völkerrechtliche Beziehungen handelt, wäre eine Einverleibung der Insel seitens der Volksrepublik eine Aggression im Sinne der Aggressionsdefinition der Uno von 1974. Eine friedliche Vereinigung beider Staaten wäre langfristig dagegen auf der Grundlage der Achtung der souveränen Gleichheit beider Staaten und unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durchaus möglich.

Hinsichtlich des Alleinvertretungsanspruchs der Volksrepublik stellt sich die Frage, ob dies eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten dritter Staaten darstellt. Zu den inneren Angelegenheiten der Drittstaaten gehört auch deren Recht, ihre Außenbeziehungen ohne fremden Einfluß und ohne Einschränkungen zu gestalten. Dieses Recht ignoriert die Volksrepublik, indem sie den Drittstaaten unter Androhung eines Übels vorschreibt, keine diplomatischen Beziehungen zu Taiwan aufzunehmen, solange solche Beziehungen zu Peking bestehen. China nutzt hier offensichtlich zur Durchsetzung seiner eigenen strategischen Interessen seine Großmachtstellung aus – und zwar zum Nachteil aller anderen Staaten der Welt.

Gemäß der Prinzipiendeklaration der Uno von 1970, die eine authentische Interpretation der Grundprinzipien der UN-Charta ist, enthält das Interventionsverbot folgende Regelungen: „Kein Staat und keine Staatengruppe hat das Recht, sich aus irgendeinem Grunde direkt oder indirekt in die inneren oder äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen.“ Und: „Kein Staat darf wirtschaftliche, politische oder irgendwelche anderen Maßnahmen anwenden oder deren Anwendung unterstützen, um einen anderen Staat zu zwingen, auf die Ausübung souveräner Rechte zu verzichten ...“ Somit ist der Alleinvertretungsanspruch Pekings gegenüber dem Rest der Welt nicht als normale Ausübung diplomatischen Drucks zu werten. Es ist vielmehr eine Verletzung des völkerrechtlichen Prinzips des Verbots der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Für die betroffenen Drittstaaten, Deutschland eingeschlossen, scheint die Einordnung Taiwans als De-facto-Regime indes ein bequemer Vorwand zu sein, um die Unterwerfung unter die Doktrin der Ein-China-Politik schamvoll zu überdecken beziehungsweise zu rechtfertigen. Da eine Annexion Taiwans für Peking vermutlich zu einem Rückschlag für die Wirtschaft und die Handelsbeziehungen führen würde, das ökonomische Wachstum für China aber gerade gegenwärtig Vorrang haben dürfte, könnte sich Peking mit der Annexion vielleicht noch etwas Zeit lassen. Andererseits könnte Peking im Windschatten der Kriege in der Ukraine und in Nahost versucht sein, kurzerhand die „Chance“ für eine Eingliederung Taiwans zu nutzen, zumal die weltweite Aufmerksamkeit auf diese beiden Krisenherde gerichtet und große Teile der US-amerikanischen Militärkapazitäten dort gebunden sind.

Aber auch wenn China diese Absicht nicht verfolgen sollte, bliebe die Taiwanfrage in der Folgezeit weiter ganz oben auf der Tagesordnung. Die freundliche Atmosphäre, in der das kürzliche Treffen der Präsidenten der USA und Chinas stattfand, kann nicht über die unverändert tiefgreifenden Differenzen in der Taiwanfrage hinwegtäuschen. Xi bewertete Taiwan als das gefährlichste Konfliktpotential in den bilateralen Beziehungen. Diese Beziehungen bleiben also trotz der wiedereingerichteten Kommunikationskanäle insgesamt fragil, so daß auch scheinbar unbedeutende Vorgänge – wie zum Beispiel ein chinesischer Ballon über US-Gebiet – zu einer jähen Verschlechterung der Beziehungen führen können.

Das rigorose Verhalten Chinas im Südchinesischen Meer verdeutlicht, daß die Volksrepublik auch außerhalb ihrer Staatsgrenzen überaus expansiv vorgeht, sobald ihre als nationale Interessen deklarierten Positionen auch nur ansatzweise tangiert sind. Dazu zählt zweifellos die Taiwanfrage. Die globale Tragweite einer Angliederung von Taiwan an die Volksrepublik läßt sich nicht zuletzt daran messen, daß China durch die Ausdehnung der Meereszonen die Kontrolle über die gesamte Kriegs- und Handelsschiffahrt in der Taiwanstraße erlangen würde. Das würde besonders die USA treffen. Die USA haben zwar keinen Verteidigungspakt mit Taiwan, fühlen sich aber durch ihren Taiwan Relation Act von 1979 gebunden. Er ermöglicht die Lieferung von Defensivwaffen an Taiwan, verpflichtet aber die USA nicht, auf einen Angriff seitens der Volksrepublik auf Taiwan militärisch zu reagieren. Dennoch hatte Präsident Biden 2021 erklärt, daß die USA im Falle eines Angriffs Taiwan Beistand leisten würden.

Die Bundesrepublik müßte aufgrund ihrer in jeder Hinsicht schwachen Stellung ein essentielles Interesse an einer ungestörten Fortführung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu beiden China haben. Daher sollte die deutsche Außenpolitik beiden Staaten gegenüber prinzipiell mit der gebotenen Kooperationsbereitschaft und Neutralität begegnen. Eine offene Parteinahme für Taiwan würde Peking sofort abstrafen – mit weitreichenden Folgen für Deutschland. Eine Teilnahme an Sanktionen gegen Peking könnte für Deutschland ebenfalls eine verheerende Bumerangwirkung haben. Auch hier hat Deutschland andere Interessen als die USA und sollte sich nicht vereinnahmen lassen.






Prof. Dr. Gerd Seidel, Jahrgang 1943, lehrte bis 2008 als Völkerrechtler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die deutsche Debatte rund um den Krieg in der Ukraine („Die Debatte versach-lichen“, JF 22/22).