© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Triumph und Tragik des Napoleon Bonaparte
Kino II: Ridley Scott nimmt sich in einem opulenten Filmepos des berühmtesten Korsen der Weltgeschichte an
Dietmar Mehrens

Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen.“ Die Worte, die Napoleon Bonaparte im Machtwahn an den österreichischen Fürsten Metternich richtete, bebildert Regisseur Ridley Scott in seinem neuen monumentalen Filmepos mehr als eindrucksvoll – mit farbenprächtigen Tableaus und einigen der aufregendsten Schlachtszenen, die je gedreht wurden. Fouché, Robespierre, Talleyrand, der Abbé Sieyès und selbst Bonapartes zweite Ehefrau Marie-Louise von Österreich: sie alle und viele andere mehr wirken wie eingequetscht zwischen Napoleons spektakulären Aktionen auf der Weltbühne, denen der Regisseur um ihrer Wirkung auf der Leinwand willen mehr Spielzeit einräumt als der feinen Charakterzeichnung. Die geschichtlichen Großkaliber werden so plattgedrückt zu eindimensionalen Briefmarken. Sie haben ein Antlitz, aber kein Leben. Das Verschwinden Marie Antoinettes aus dem Film, deren grausame Guillotinierung das Opus ebenso spektakulär wie blutrünstig eröffnet, ist nachvollziehbar. Bei anderen Figuren, bei Marie-Louise oder Napoleons Bruder Lucien, der ihm in der Ära des Direktoriums zur Macht verhilft, fragt man sich schon, was aus ihnen geworden ist. Selbst 160 Spielminuten sind kurz, wenn sie die gesamte Karriere des korsischen Kaisers und aller, die darauf Einfluß hatten, erzählen wollen.

Immerhin eines ist dem Regisseur gelungen: eine neue Interpretation der Gestalt des ehrgeizigen Generals. Scott besetzte die Rolle des Artillerieoffiziers und späteren Kaisers trotz eher geringer Ähnlichkeit mit Joaquin Phoenix. Der hatte unter seiner Regie in „Gladiator“ (2000) mit der Figur des römischen Despoten Commodus schon einmal einen „dämonisch Besessenen“ (Stefan Zweig über Napoleon) verkörpert. Nie hat sich ein Regisseur mehr Mühe gegeben, Bonaparte als Rüpel zu inszenieren, als Emporkömmling ohne Manieren, der von seinem aristokratischen Umfeld selbst im Glanz seiner Majestät und seines größten Ruhms mehr verachtet als verehrt wurde.

Biographische Stationen werden pflichtschuldig abgehakt

Die Beziehung zu seiner ersten Frau Joséphine (Vanessa Kirby), die ihn betrügt, ihm keinen Erben schenkt und daher schließlich 1809 aus Staatsräson von ihm geschieden wird, nutzt Scott, um den Charakter des Kaisers auszuleuchten, der Figur des Potentaten Privatleben einzuhauchen. Die Szenen mit ihr geben dem Film dramaturgisch Halt. Auf die Taktlosigkeit, Napoleon auch als Rüpel im Schlafzimmer zu zeigen, hätte Scott allerdings ruhig verzichten können.

Sieht man von der durch historische Großereignisse erdrückten Liebesgeschichte mit Joséphine de Beauharnais ab, ist „Napoleon“ indes wenig mehr als das pflichtschuldige Abhaken der biographischen Hauptstationen des Autokraten im Schweinsgalopp: Revolution und Beginn des politischen Wirkens 1789, der Sieg von Toulon 1793 über die Engländer, der als Bonapartes Meisterstück gilt, Robespierres Ende 1794, Royalisten-Aufstand 1795, Ägyptenfeldzug 1798, Sturz des Direktoriums und „Machtergreifung“ (der Begriff fällt im Film) am 9. November 1799, Kaiserkrönung 1804, Austerlitz 1805, Frieden von Tilsit 1807, Rußlandfeldzug 1812, Verbannung nach Elba 1814, Waterloo und Verbannung nach St. Helena 1815. Manches an dieser Auswahl – warum Austerlitz und nicht die Völkerschlacht bei Leipzig, warum die Schlacht bei Borodino und nicht das Debakel an der Beresina? – gibt Rätsel auf. Immerhin hat sich Scott um Authentizität bemüht: Die Kaiserkrönung ist eine kongeniale Überführung des berühmten Gemäldes von Jacques-Louis David in Bewegtbilder.

Daß Scott seinen Film dienstbeflissen mit diversen Schwarzen bestückt hat, um im hysteriebegabten Hollywood ja keine Minuspunkte bei den einflußreichen „Black Lives Matter“-Blockwarten zu sammeln, bestätigt den Gesamteindruck, daß dem temporeichen Historienschinken künstlerisches Selbstbewußtsein und ein innovativer Ansatz fehlen.