Die Bedeutung des italienischen Universalkünstlers Michelangelo Buonarroti (1475–1564) reicht weit über seine Schaffensperiode in der Hochrenaissance hinaus. Diesen Einfluß auf das Kunstgeschehen der folgenden Jahrhunderte deutlicher zu machen, bemüht sich die aktuelle Ausstellung in der Wiener Albertina.
Dabei liegt der Fokus auf dem von Michelangelo entwickelten Körperideal, das mehr als 300 Jahre den Maßstab zur Darstellung männlicher Akte setzte. Der Künstler fand zu diesem Ideal durch das intensive Studium der Natur und die Auseinandersetzung mit antiken Monumentalskulpturen, die in der Renaissance wiederentdeckt wurden.
Rembrandt zeigte Körper in schonungslosem Realismus
Die Ausstellung bleibt indes nicht bei der Vorstellung von Werken des bekannten Italieners stehen, sondern setzt diese in einen Zusammenhang mit Arbeiten nachfolgender Künstler. Etwa in der der Hochrenaissance folgenden Phase des Manierismus wurde Michelangelos Körperideal zu eleganten, in die Länge gezogenen Personenabbildungen übersteigert. Im 17. Jahrhundert steht Peter Paul Rubens stellvertretend für die Verehrer Michelangelos, die dessen Körperlehre nachzueifern versuchten. Im 18. Jahrhundert wird das Erbe des Renaissancekünstlers unter anderem durch den spätbarocken Maler Pompeo Batoni und den Frühklassizisten Anton Raphael Mengs weitergetragen.
Doch gab es auch Gegenbewegungen. Eine erste wird mit kleinen Arbeiten Rembrandt van Rijns präsentiert. Rembrandt legte bewußt keinen Wert auf eine Idealisierung des menschlichen Körpers, sondern zeigte ihn in einem schonungslosen Realismus. Bei dem um 1631 entstandenen Druck „Nackte Frau auf einem Erdhügel sitzend“ sieht man deutlich den durch vorangegangene Geburten faltig und unförmig gewordenen Bauch sowie sogar die Abdrücke der Strumpfbänder an den Waden. Auch in seiner 1638 entstandenen Radierung „Adam und Eva“ werden zwei gealterte Personen mit nicht mehr frischen Staturen präsentiert.
Doch erst ab Ende des 19. Jahrhunderts sollte Michelangelo seinen Vorbildcharakter gänzlich verlieren. Die Ausstellung macht eine geistige Neuorientierung nach der Industrialisierung und der Erfahrung der großen Kriege des 20. Jahrhunderts dafür verantwortlich. So sei Michelangelos Körperideal weder dazu geeignet gewesen, die harte Realität zu zeigen, noch in die Welt der Träume zu entführen. Anschaulich wird diese Abkehr mit Arbeiten der Wiener Gustav Klimt und Egon Schiele belegt. Der Jugendstil-Maler Klimt arbeitete am Traum des zerbrechlichen Wesens der „Femmes fragiles“, während der Expressionist Schiele verrenkte, verkrampfte und von Krankheit verzehrte Körper präsentierte.
Michelangelo prägte die Darstellungsformen des nackten Mannes für die nächsten Jahrhunderte. Frauen – so die Ausstellung – seien hingegen lange tugendhaft verhüllt dargestellt worden. In ihrer Nacktheit wären sie allenfalls als Göttin Venus oder als Hexen, beispielsweise bei Hans Baldung, dargestellt worden, behauptet die Präsentation, um selbst mehrere Gegenbeispiele zu zeigen. Letztlich zeige sich darin auch die im 19. Jahrhundert besonders deutlich werdende Angst des Mannes vor der Sexualität der Frau. Zeigt er also zu wenig weibliche Haut, hat er Angst, zeigt er zu viel, ist er ein Sexist. Etwas feministischer Mummenschanz gehört heute eben zum Zeitgeist und scheinbar in jede aktuelle Kunstausstellung.
Die Ausstellung „Michelangelo und die Folgen“ ist bis zum 14. Januar 2024 in der Wiener Albertina, Albertinaplatz 1, täglich von 10 bis 18 Uhr, mittwochs und freitags bis 21 Uhr, zu sehen. Der Katalog mit 264 Seiten kostet 36,90 Euro.