Vor fünfzig Jahren, am 23. November 1973, wurde der Paragraph 184, der bis dahin die „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ sanktionierte, aus dem bundesdeutschen Strafgesetzbuch (StGB) gestrichen. Im Rahmen der umfassenden Strafrechtsreform, die die seit 1969 regierende sozialliberale Koalition unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt ins Werk setzte, schien gerade diese Novellierung anfangs von eher marginaler Bedeutung zu sein. Doch dann provozierte sie schon bei ihrer Ankündigung 1970 einen heftigen, sich in zahlreichen Bürgerinitiativen, Unterschriftensammlungen und einer Petition an den Bundestag austobenden Sturm öffentlicher Entrüstung, so daß die Regierung einen Rückzieher machte und versprach, nur eine Entschärfung des Straftatbestandes vorzubereiten. Angesichts des allmählich erlahmten Widerstands, verwirklichte sie 1973 jedoch auch an diesem Punkt ihre ursprüngliche Absicht, das Strafrecht zu „entmoralisieren“.
Millionen Bücher pornographischen Inhalts
Abgesehen von einigen Einschränkungen des Jugendschutzes war damit die Verbreitung von Pornographie nicht mehr untersagt. Die Streichung des Paragraphen 184 StGB vollendete, was 1969 mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs begonnen hatte, die einen Klassiker des erotischen Romans, „Fanny Hill“ (1749), nicht länger als Pornographie, sondern als literarisches Kunstwerk bewertete. Mit der Folge, daß noch im selben Jahr zwanzig ähnliche Romane auf dem westdeutschen Buchmarkt erschienen. 1971 lag diese Zahl bereits bei 500, und bis dahin waren in atemberaubendem Tempo insgesamt acht Millionen Bücher und Broschüren pornographischen Inhalts verkauft worden. Ein Publikumserfolg, der sich im Kino wiederholte: Soft-Sexstreifen des Typs „Schulmädchen-Report“ machten schon 1970 die Hälfte der gesamten westdeutschen Filmproduktion aus. War die Bundesrepublik bis dahin im Vergleich mit führenden Porno-Herstellern wie Dänemark und Schweden eher ein Nachzügler, holte sie nun so schnell auf, daß sie Anfang der 1970er weltweit als der größte Markt für Pornographie galt.
Interessant ist für den Kulturhistoriker Sebastian Bischoff (Universität Paderborn) aber nicht dieses Faktum, sondern die Reaktionen auf diese „Pornowelle“ im bürgerlich-konservativen und rechten/nationalrevolutionären politisch-publizistischen Spektrum (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 11/2022). Lege deren Analyse doch jenseits der üblichen Klagegesänge über Materialismus, Säkularisierung und Sittenverfall oft erstaunlich „radikale antikapitalistische Rhetoriken“ frei. Vorgeprescht sei hier im März 1967 ausgerechnet Papst Paul VI. mit seiner Enzyklika „Populorum progressio“, die die New York Times als „fast marxistisches Dokument“ charakterisierte, weil sie empfahl, in bestimmten ökonomischen Konstellationen nicht einmal vor der Enteignung von Grundbesitz zurückzuschrecken.
Warnungen vor dem Abstieg zum „sexuellen Supermarkt“
In einem solchen antikapitalistisch grundierten Umfeld, das den Einfluß des Arbeitnehmerflügels der CDU genauso begünstigte wie den Aufschwung des Linkskatholizismus und -protestantismus, und dem sich nicht einmal die FDP entzog, wenn sie in ihren „Freiburger Thesen“ eine nur den Reichtum der Reichen mehrende Kapitalakkumulation anprangerte, habe die NPD die Mobilisierungskraft des Themas „Pornowelle“ erkannt. Die Rechtsaußen-Partei, die 1969 den Einzug in den Bundestag nur knapp verpaßte, aber noch in elf Landesparlamenten vertreten war, verfügte nach Bischoffs Urteil lediglich über ein vages wirtschaftspolitisches Programm, das sich im Kern in der kulturkritischen Kampfansage gegen den „hemmungslosen Materialismus“ und in nebulösen Autarkieideen erschöpft habe.
Erst die verlorene Bundestagswahl setzte jene nationalrevolutionären Fliehkräfte frei, die sich hinter Wortführern wie Henning Eichberg (Arbeitskreis Junges Forum), Friedhelm Busse (Partei der Arbeit/Deutsche Sozialisten) und dem bayerischen Landesvorsitzenden Siegfried Pöhlmann sammelten, um herkömmliche Materialismus-, Konsum-, Zivilisations- und Technikkritik antikapitalistisch und national-sozialistisch aufzuladen.
Zu diesem Zweck hätten Konservative wie Rechte die vollständige Kontamination des Sexuellen durch das Profitstreben behauptet. Ideologisch inspiriert von rechten Denkern wie Hans Freyer, Arnold Gehlen und nicht zuletzt von Helmut Schelskys Bestseller „Soziologie der Sexualität“ (1955) sei die extreme Rechte gut gerüstet in die Pornographie-Debatte um 1970 eingestiegen. In Gesellschaften, so ihr letztlich marxistisches Hauptargument, die ihre Reproduktion über das Prinzip Mehrwert (Profit) organisieren, gehorche auch das scheinbar Private und Intime Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage. Was Armin Mohler, Gustav Sichelschmidt, Alfred Schickel, der „Anti-Porno-Anwalt“ Manfred Roeder und viele andere, durchweg männliche Autoren, die Warnungen vor dem Abstieg Deutschlands zum „sexuellen Supermarkt“ formulierten, am Paradebeispiel der Herabwürdigungen von Frauen zu reinen Lustobjekten demonstrierten. Das heute als „selbstbestimmte Sexarbeiterin“ glorifizierte Callgirl, das seine Haut buchstäblich zu Markte trage, so drückte es der Historiker und Schriftsteller Sichelschmidt aus, repräsentiere perfekt die verdinglichte und entfremdete Existenz in der kapitalistischen Warenwelt: „Gebrauchsfertig“ werde dieses „entpersönlichte, auswechselbare Serienprodukt“ ins Haus geliefert. Prostitution und Pornographie trennen Sexualität und Reproduktion, um „entmenschlichte Körper auf ihre animalischen Funktionen“ zu reduzieren.
Konsequente rechte Kritik an der „Pornowelle“ habe sich unter den Bedingungen linker Diskurshoheit nicht gescheut, gegen die in kapitalistischen Systemen geförderte „Verfallsbereitschaft des Menschen“ (Gehlen) gerichtete neomarxistische Positionen zu übernehmen. Die Vorstellung allerdings, es handle sich dabei allein um die „Kaperung originär linker antikapitalistischer Argumente“ sei falsch. Sie ignoriere zum einen die ideologische Eigenständigkeit des damaligen und heutigen rechten Antikapitalismus. So wie sie sich in den 1990ern in der „sozialrevolutionären Wende“ der NPD und gegenwärtig im „solidarischen Patriotismus des völkischen Flügels der AfD“ zeige.
Zum anderen würden die, freilich weitgehend unerforschten Gemeinsamkeiten des rechten Antikapitalismus von 1970 und 2023 mit Formen neoromantischer Antikapitalismen von links gern übersehen. In einem zentralen Punkt erkennt Sebastian Bischoff indes eine unüberwindliche Scheidung der Geister: Kein Linker würde der rechten These zustimmen, wonach das Grundübel der Pornographie im darin aufscheinenden materialistischen Individualismus liege – mitsamt eines erschreckend minimalistischen Menschenbildes, das im „Sexus das Höchstmaß des Glücklich-Sein-Könnens“ erkennen will.