Wenn Teile der immateriellen Kultur moderner Industriegesellschaften, ihre Werte, Normen, Menschen- und Weltbilder, mit Veränderungen ihrer materiellen Grundlagen nicht Schritt halten, kommt es zum „cultural lag“. Dieses Phänomen „kultureller Phasenverschiebung“ hat der US-Soziologe William Fielding Ogburn 1922 erstmals theoretisch zu erfassen versucht. Und dabei die Faustformel geprägt, wonach derartige zeitliche Asymmetrien in der Regel zu sozialen Verwerfungen führen, die sich in Revolutionen, Bürgerkriegen und Kriegen entladen. Ein Beispiel solcher Ungleichzeitigkeit bietet aktuell etwa die Massenmigration, die das überlieferte europäische Ensemble kultureller Orientierungen in Frage stellt. Der Hamburger Soziologe Sighard Neckel sieht aber nicht hierin oder generell in der Globalisierung, die seit 1990 die kollektiven Werthaltungen noch „in den letzten Ecken lokaler Lebenswelten“ umwälzt, das Fundament für ein „Treibhaus künftiger Konflikte“, sondern in der von ihm prinzipiell befürworteten „Großen Transformation“. Denn der von der Ampelregierung angestrebte radikale ökologische Umbau überfordere offenkundig die „mentale Infrastruktur der bundesdeutschen Gesellschaft“. Eine Klimapolitik, die CO2-Neutralität bis 2045 erreichen wolle, ohne gravierende Einbrüche der Wirtschaft und schwere soziale Erschütterungen zu riskieren, müsse verstärkt auf „kulturelle Selbstverständnisse“ der Bevölkerungsmehrheit achten. Sonst werde der ihr zugemutete Transformationsstreß das demokratische System an die Grenzen der Zumutungsbereitschaft und seiner Funktionsfähigkeit bringen (Merkur, 11/2023).