© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Von Christus ergriffen
Literatur: Zum Gedenken an den vor 125 Jahren geborenen irischen Schriftsteller C. S. Lewis. Der Autor der Fantasy-Welt von Narnia prägt bis heute das Denken bibeltreuer Christen
Dietmar Mehrens

Im Jahre 1931 vertieften sich in Oxford drei philosophisch und theologisch interessierte Männer in ein Gespräch, das bis tief in die Nacht dauerte. Am Ende hatten die beiden älteren in der Runde den jüngeren, den Literaturwissenschaftler Clive Staples Lewis (1898–1963), überzeugt, daß das biblische Zeugnis von Gott und Jesus Christus wahr ist. Daß Gott existiert, hatte Lewis, vorher Atheist, schon 1929 eingesehen; nun aber überzeugte ihn auch die Botschaft von Sühnetod, Auferstehung und Göttlichkeit Jesu Christi.

Die beiden älteren waren Lewis’ Kollegen Hugo Dyson und J. R. R. Tolkien, beide wie er Dozenten in Oxford. Mit Tolkien, dem Schöpfer des „Hobbit“ und der „Herr der Ringe“-Trilogie, war C. S. Lewis, den Freunde Jack nannten, seit 1926 bekannt und bald auch eng befreundet. Von 1933 bis 1947 traf sich der Freundeskreis der „Inklings“, eine Art fromme Gruppe 47, in Lewis’ Räumlichkeiten am Magdalen College, um Fragen der Philosophie, Literatur und Kultur zu erörtern. Neben Tolkien und Lewis gehörten auch dessen Bruder Warnie, Hugo Dyson und andere Oxford-Gelehrte dazu.

Für die gleichermaßen von Christus ergriffenen Intellektuellen Tolkien und Lewis begann so eine berufliche Laufbahn voller Gemeinsamkeiten. Beide waren nicht nur Philologen, sondern auch berühmte Romanciers, die sich regelmäßig über ihre Werke austauschten. Tolkiens Freund gehörte zu den ersten Lesern der drei „Herr der Ringe“-Romane und ermutigte die heutige Ikone der Fantasyliteratur in seinen schriftstellerischen Ambitionen. Nicht immer waren sich die beiden Freunde dabei künstlerisch einig. Während Tolkien die Ansicht vertrat, Kunst müsse vor allem für sich stehen und nicht verzweckt werden, hatte sein Kollege sich für seine literarischen Projekte die Parabolik der Bibel zum Vorbild genommen. Viele seiner Bücher gehen, entsprechendes Hintergrundwissen vorausgesetzt, auf wie ein aufgelöstes Jesus-Gleichnis – mustergültig zu sehen an der messianischen Erlöserfigur des Löwen Aslan in „Der König von Narnia“ („The Lion, the Witch and the Wardrobe“, 1950). 

1917, Lewis war 18 Jahre alt, hatte die akademische Laufbahn des gebürtigen Belfasters an der Universität Oxford begonnen. Doch schon wenige Monate später wurde er zum Militärdienst eingezogen und nach Frankreich an die Front geschickt, wo er im April 1918 eine Verwundung erlitt. Der Krieg war damit für ihn vorbei. 1919 setzte er sein Philologie- und Philosophiestudium fort. Nach mit Bravour bestandenen Examen lehrte er zunächst Philosophie, danach von 1925 bis 1954 Anglistik am Oxforder Magdalen College; danach nahm er eine Professur für englische Literatur des Mittelalters und der Renaissance in Cambridge wahr. Der Ire wurde zu einem theologisch beschlagenen Intellektuellen von Rang, veröffentlichte in christlichen Zeitschriften und wurde britannienweit bekannt durch Radioansprachen für die BBC.

In dem ersten vom Autor für Kinder verfaßten „Narnia“-Buch werden die vier minderjährigen Geschwister Lucy, Edmund, Susan und Peter Pevensie während des Zweiten Weltkriegs aus London evakuiert und gelangen auf dem Landsitz eines freundlichen Professors, ähnlich wie bei „Alice im Wunderland“, durch einen Wandschrank in die Fabelwelt von Narnia. Hier übt eine „Weiße Hexe“, die Geschöpfe zu Stein verwandeln kann, ein Schreckensregiment aus. Sie ködert Edmund mit „türkischem Honig“ – eine Metapher für den süßen Geschmack der Sünde – und bringt ihn so in ihre dämonische Gewalt. Der wahre Herrscher von Narnia, der majestätische Löwe Aslan, muß den Fluch lösen, der über Edmund verhängt ist. In sechs Folgewerken entwickelte der Autor die gleichnishafte Welt von Narnia weiter.

Die Romane werden immer wieder mit dem „Herrn der Ringe“ in Verbindung gebracht. Zweimal hatte der Erfolg von Tolkiens Mittelerde-Saga die „Narnia“-Bücher gleichsam im Schlepptau: Als „Der Herr der Ringe“ in der Hippie-Ära als Kampf gegen böse Imperialisten gelesen und so zum Kultbuch wurde, erwachte auch das Interesse für die Fantasiewelt von Tolkiens engem Freund.

Nach dem gigantischen Erfolg von Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Spielfilmreihe (2001–2003) suchten die großen Studios nach Stoffen, die ähnlich erfolgreich fürs Kino adaptiert werden konnten, und so kam 2005 der erste von drei „Narnia“-Filmen in die Kinos. Auf den „König von Narnia“ folgten „Prinz Kaspian von Narnia“ (2008) und „Die Reise auf der Morgenröte“ (2010). Danach wurde es still um den „Narnia“-Kosmos.

Der erste Film war ein großer Erfolg, Teil zwei und drei erfüllten die hohen Erwartungen nur bedingt. Szenekenner berichten, daß inzwischen Netflix – wiederum im Anschluß an eine Serienauswertung von Tolkiens „Der Herr der Ringe“ – eine „Narnia“-Reihe plant, was Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen bietet. Auch fürs britische Fernsehen BBC waren die Bücher bereits verfilmt worden (1988–1990). 

Ein Blick in die beim Ueberreuter-Verlag erhältliche Gesamtausgabe „Die Chroniken von Narnia“ macht rasch deutlich, daß C. S. Lewis, aller Nähe zu den Überzeugungen Tolkiens in Fragen des Glaubens zum Trotz, als Literat ganz anders tickt. An die Stelle von Tolkiens leidenschaftlicher Epik tritt bei Lewis ein theologischer Utilitarismus. Wo Tolkien zu monumentalen Inszenierungen und plastischen Tableaus neigt und so den Leser förmlich in seine Fantasiewelt hineinzieht, erzählt Lewis auktorial, macht üppig Gebrauch von Zeitraffung und springt ohne Umschweife zum nächsten Handlungssegment. Man vermeint stets eine Art Märchenonkel am Bett eines Kindes sitzen zu sehen, wenn man eine „Narnia“-Geschichte liest. Die Distanz zu den Figuren ist viel größer. Jeder der sieben Romane ist auch nur etwa 150 Seiten lang (jedenfalls wenn die Edition von großen Schriftbildern bzw. Zeilenabständen absieht, um einen höheren Verkaufspreis zu erzielen).

Was man der für Kinder gedachten „Narnia“-Reihe noch nachsehen konnte, bemängelte die Kritik an der ausdrücklich für ein erwachsenes Publikum verfaßten Science-fiction-Trilogie mit den Romanen „Jenseits des schweigenden Sterns“ (1938), „Perelandra“ (1943) und „Die böse Macht“ (1945), deren dritter Teil mit Huxleys „Schöne neue Welt“ und Orwells „1984“ verglichen wurde, ohne daß ihm seitens der Kritik der gleiche literarische Stellenwert zuerkannt worden wäre. Die Weltraum-Saga handelt von zwei sehr unterschiedlichen Wissenschaftlern, die gemeinsam zum Mars reisen und dort eine eigentlich heile Welt bedrohen (Teil 1), von einer Rettungsmission auf der hier Perelandra genannten Venus (Teil 2) und vom Kampf gegen eine totalitäre Technokratie, die auf der Erde von Satan höchstpersönlich unter dem Decknamen NICE („National Institute of Coordinated Experiments“) errichtet worden ist. Fortschrittshörigkeit und ein materialistisches Weltbild haben die Erdenbewohner ihres eigentlichen Lebenszwecks, letztlich ihrer Seele beraubt. In einem apokalyptischen Endkampf müssen sie von der Macht des Bösen befreit werden.

In der Regel lassen sich Lewis’ Allegorien und Vergleiche widerspruchsfrei auflösen. Vielen war das zu glatt. Doch die Kritik läßt sich selbstverständlich auch auf das Grundbedürfnis der aufgeklärten Moderne zurückführen, sich vom tradierten Glauben und dessen als rückständig aufgefaßten Axiomen loszusagen, sich kraft des eigenen Verstandes sozusagen selbst zum Maß aller Dinge zu erklären. Genau das ist die Hybris, die Lewis aufs Korn nimmt.

Aber nicht nur Progressive und Linke störten sich an Lewis’ offen zur Schau gestelltem christlichen Selbstverständnis, das in seinen dezidiert theologischen Werken noch unverhüllter zutage tritt. Auch sein Intimus J. R. R. Tolkien konnte namentlich mit den „Narnia“-Büchern wenig anfangen, befand die christliche Botschaft als viel zu leicht dechiffrierbar. Tatsächlich lädt die „Herr der Ringe“-Trilogie zu sehr viel mehr Deutungen ein.

Die Kriterien christlicher Erbauungsliteratur erfüllen die ebenfalls populären Bücher „Dienstanweisung für einen Unterteufel“ („The Screwtape Letters“, 1942) und „Die große Scheidung“ („The Great Divorce“, 1945). Sie erinnern in ihrer humorvollen Luzidität an die Werke G. K. Chestertons. In seinem geistreichen „Unterteufel“-Briefroman erläutert Lewis sehr anschaulich, wie die Macht des Bösen den zum Glauben an Christus Gekommenen auf trickreiche Weise seiner eigenen Seligkeit abspenstig zu machen trachtet. „Die große Scheidung“ widmet sich in Form einer Gleichniserzählung dem theologisch höchst relevanten Thema von Himmel und Hölle und fordert den Leser auf, die Frage, wo er mal landen möchte, zu Lebzeiten für sich zu klären.

Jahre bevor die drei Verfilmungen ihn auch hierzulande ins Gespräch brachten, war der „Narnia“-Erfinder übrigens bereits selbst zum Kinohelden geworden. In „Shadowlands“ (1993) erzählt „Gandhi“-Regisseur Richard Attenborough die tragische Liebesgeschichte des Schriftstellers (dargestellt von Anthony Hopkins) mit seiner amerikanischen Kollegin Helen Joy Gresham (Debra Winger), die er in Oxford ehelichte, allerdings zunächst vor allem, um sie davor zu bewahren, England wieder in Richtung USA verlassen zu müssen. 1960 starb Joy im Alter von nur 45 Jahren an Krebs. Ihr Ehemann folgte ihr nur drei Jahre später. Douglas, Joys Sohn aus erster Ehe, schrieb später in einem Vorwort für die„Narnia“-Gesamtausgabe über C. S. „Jack“ Lewis: „Er hatte das Talent, sich mit einem Kind von gleich auf gleich unterhalten zu können, ohne es in irgendeiner Weise von oben herab zu behandeln.“

Das „The Kilns“ genannte Anwesen, in dem Clive S. zusammen mit seinem Bruder Warnie bis zur Begegnung mit Joy ein recht genügsames Junggesellenleben geführt hatte, wird in Douglas’ Erinnerung mit einem Wald voller knorriger Bäume, einem kleinen See, „halb verfallenen Gebäuden und geheimnisvollen Schuppen“ zum Vorbild für die Fantasiewelt von Narnia. Wenn er dorthin zurückkehre, so Douglas Gresham, versetzten ihn seine Gedanken noch immer in das Narnia seiner Kindheit zurück, „und ich sehe Jack und meine Mutter vor mir, wie sie durch den Wald wandern“. 

Clive Staples Lewis: Die Chroniken von Narnia. Gesamtausgabe im Schuber. Ueberreuter Verlag, Berlin, broschiert, 1.308 Seiten, 49 Euro