© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Leidenschaft, die auch Leiden schafft
Lebensgeschichten: Von Apulien in die Schweiz und zurück / Vincenzo Stefanelli: Gastarbeiter, Olivenkönig, und dann kam Xylella
Lubomir T. Winnik

Es war im September 1982. Einen Monat zuvor hatte ich von  einer Zürcher Zeitung den Auftrag bekommen, einen ehemaligen Gastarbeiter zu finden, der in seine Heimat zurückgekehrt war. Vor allem ging es darum herauszufinden, was er dort mit dem in der Schweiz verdienten Geld gemacht hat. Doch einen solchen Mann (und dessen Ehefrau Graziella) kannte ich bereits seit 1975. Er hieß Vincenzo Stefanelli, er war ein Fensterbauer bei einer Zürcher Baufirma und kam aus Apulien – der Region, die den Absatz des italienischen „Stiefels“ bildet.

 Südapulien, bekannt insbesondere die Region Salento, war bis in die späten 1950er Jahre bitter arm. „Es gab sogar keine Straßen da“, erklärt der Bürgermeister von Ugento, Salvatore Chiga, bei einem erneuten Besuch in diesem Jahr. Es habe an allem gefehlt, „aber am meisten an Wasser.“

Es begann mit 200 schon in der Schweiz bestellten Olivenbäumen 

„Das Land der Sonne ist durstig (...). Dies ist der Feldzug des Durstes und des Südwindes. Rote Erde. Von starken Männern ausgehöhlt. Mit Illusion gesät ... Unteres Salento. Land der Ängste und Hoffnungen.“ In diesem düsteren Kontext, als wenn er über einen Verstorbenen geschrieben wäre, schilderte der Chefredakteurr der Zeitung Gazzetta del Mezzogiorno Domenico Faivre das Dasein der Bevölkerung von damals. Der mörderische Durst habe jeden Halm, jedes Gewächs und jeden Baum ausdörren lassen. Wiederkehrende Malariaepidemien hätten den geprüften Menschen den Rest gegeben.

Noch 1927 hatte König Vittorio Emanuele III. eine Anordnung zur Gründung des Konsortiums „Mammalie – Rottacapozza – Pali“ erlassen, das die hydraulische Rekultivierung der Region Ugento-Salve bewirken sollte. Der Plan berücksichtigte vorerst 12.000 Hektar. Dann kam der Krieg. Erst 1953 wurde noch ein Konsortium „Paludi li Foggi“ gegründet. Um die Leistung der Wasserförderung zu steigern, fusionierte es 1958 mit „Mammalie – Rottacapozza – Pali“. Das neue staatliche Konsortium heißt bis heute „Ugento e Li Foggi“. Es hat moderne hydrotechnische Innovationen eingeführt, intensiv umfangreiche Bewässerungsanlagen gebaut und ausgebaut, immer neue Wasserquellen erschlossen und in Betrieb genommen. Diese Maßnahmen änderten die landwirtschaftliche Lage in Salento generell – der Durst der roten Erde wurde endlich nachhaltig gestillt. Derzeit beliefert das Unternehmen mit dem Wasser ein Gebiet von 189.494 Hektar Größe und umfaßt 78 Gemeinden der Provinz Lecce. 

Zurück zu Vincenzo Stefanelli. Er entstammt einer Familie mit zwölf Kindern. Die extreme Not, ja der nackte Hunger waren groß. So begab sich der zwölfjährige Bub nach Turin, wo er als Kuhstallgehilfe rund um die Uhr schuftete. Nur einmal im Jahr bekam er seinen Lohn und konnte die Verwandten besuchen. Schon damals kaufte er seinen ersten Acker. Mit 18 erfolgte die Übersiedelung in die Schweiz. Erst nach zehn Jahren Wohnen in einer Gastarbeiterbaracke durfte seine Frau Graziella zu ihm kommen und bleiben. Lapidar gesagt: eine typische, zuweilen unglaublich harte oder schlicht banale Lebensgeschichte eines Fremdarbeiters unter Millionen Namenloser. Doch bei Vincenzo offenbarte sie eine eher unkonventionelle Zukunftsplanung.

Er hatte fleißig aus der Schweizer Ferne diese Entwicklung beobachtet. Er kalkulierte sorgfältig. Dann war für ihn die Lage klar – die Zeit zur Heimkehr war gekommen. 1976, nach 20 Jahren harter Arbeit in der Schweiz, trafen die Stefanellis in Ugento ein.  

„Der Bau eines eigenen Hauses in der Heimat“,  so Bürgermeister Salvatore Chiga, sei das Hauptmotiv der Auswanderung gewesen.  Darüber schrieb ich bereits 1982 in dem Artikel: „Nahezu 80 Prozent der Ugenter besitzen Häuser, 50 Prozent davon sogar zwei, vorwiegend Sommerdomizile am Meer. In der Schweiz, wo 70 Prozent der Einwohner Wohnungsmieter, sind klingt der Vergleich mit diesem ‘armen Hinterhof Europas’ offenbar komplett surreal, wenn nicht peinlich.“ Zweifelsohne störte das Faktum den Redakteur der Zürcher Zeitung, der meine Reportage nun ablehnte. 

Auch Vincenzo Stefanelli brauchte ein Haus. In Ugento fand er ein altes, einstöckiges Gebäude mit mächtigem Gemäuer und fester Bausubstanz. Er renovierte es mit eigener Kraft und seinem handwerklichen Geschick. Mit eigenem Obdach „ausgestattet“, trat nun Vincenzo zur Verwirklichung des langen Traums von einem eigenen Geschäft an, das die Zukunft seiner Familie materiell absichern sollte. Sein Vater hatte früher als Tages- oder Saisonarbeiter auf den Feldern anderer Grundbesitzer gearbeitet – auch auf einem Feld mit 500 Olivenbäumen. Hier kaufte Vincenzo noch von der Schweiz aus 200 Bäume. Im zweiten Schritt erwarb er die restlichen 300 Bäume samt dem Acker und zwei weiteren Feldern und begann mit einer eigener Olivenölherstellung. Weil das Wasser reichlich vorhanden war, fing er darüber hinaus mit dem Anbau von Gemüse an. Die fruchtbare rote Erde tat ihr Bestes: riesige, schmackhafte Tomaten, Kartoffeln von hervorragender Qualität, Gurken, Zucchini, Zwiebeln, Peperoni, Paprika, Bohnen. 

Sein Olivenöl und Gemüse erreichten bald die Regale der Supermärkte in der Schweiz und auch in Deutschland. Damals, anno 1982, sah ich ihn in steter Begleitung des zwölfjährigen Paolo auf den vier Feldern um Ugento herum: die Beine der in Shorts steckenden Männer, waren bis zu den Knien mit roter Erde befleckt. Im Schweiße des Angesichts schleppten sie die metallenen Wasserröhren mit Feuerwehrkupplungen von einer Wasserspritze zur anderen, trugen auf den Händen oder beförderten mit Karren unzählige schwere Steine aus den Feldern fort, damit diese gepflügt werden konnten. Tagaus, tagein. 

So verging jeder Sommer vor Paolos Schulgang. Nach getaner Arbeit machte der Vater, ein athletisch gebauter Mann von mittlerer Statur, seine Tagesbilanz: Lesen und schreiben konnte er zwar nicht, aber zählen und rechnen ohne Schreibzeug oder Taschenrechner tat er blitzschnell im Kopf. Nichts überließ er dem Zufall. „Organisation ist alles“, pflegte Vincenzo oft schmunzelnd zu sagen, „ohne sie – kein Erfolg“. Obwohl das Leben des Bauern von ewigem Risiko angesichts Wetter- und Klimakapriolen abhängig war, erzielte er Erfolge. Es gab Jahre, in denen er während einer Saison über 100 Tonnen Kartoffeln exportieren konnte. Entsprechend investierte er in den Kauf und Bau weiterer Häuser, immer eingedenk der Zukunft der Kinder. Im sechs Kilometer von Ugento entlegenen Ort am Meer Torre S. Giovanni baute er das Sommerhaus aus: Es wurde um zwei Stockwerke vergrößert und total modernisiert. In Ugento erwarb er ein Haus für seinen Sohn Paolo und dessen Familie. 

Wie vor 60 Jahren verlassen die Menschen Apulien

Paolo hatte eine Ausbildung im Musikkonservatorium von Lecce gemacht. Sein älterer Sohn Matteo studierte in Mailand Ökonomie. Maria heiratete und besitzt ebenfalls ein großes Haus. Alles lief nach Vincenzos Lebensplan, der bescheidene Wohlstand auch für die Nachkommen schien gesichert zu sein.

In den hier und da gesichteten trockenen Zweigspitzen sah Vincenzo anfangs nichts Bedrohliches. Er schnitt solche einfach ab, und die Sache war erledigt. 2013 funktionierte die routinemäßige Methode plötzlich nicht mehr: Die gekürzten Zweige trockneten unbeirrt weiter. Bald erfaßte die seltsame Trockenheit die ganze Baumkrone. Noch schlimmer: Das Unheil griff auf andere Bäume über. In Kürze stand sein Lebenswerk – nahezu die gesamten Haine – nackt da, des Laubs beraubt, brutal ausgedörrt, tot. Dann hörte Vincenzo erstmals von Xylella fastidiosa – einer Bakterienvariante, die wie es sich später herausstellte, im Jahr 2008 durch eine Kaffeepflanze aus Costa Rica eingeschleppt worden war. 

Den Nachforschungen der Coldiretti – dem nationalen Verband der Direktbauern – zufolge gingen auf einer Fläche von 8.000 Quadratkilometern der salentinischen „Grünen Fabrik“ schier 21 Millionen Olivenbäume ein. 

Das Feuerbakterium traf Vincenzos bis ins Mark. Von seinen 500 Olivenbäumen überlebten nur 100 der Leccino-Sorte. Schon seltsam: Das Virus verschonte diese weniger produktiven Bäume; aber die besten Sorten Frantoio, Cellina und Ogliarola nicht. Davon überlebte kein einziges Exemplar!

Als die Krankheit zuschlug, blieb die Regierung in Rom ratlos. Die Parteien verstrickten sich in endlosen Schuldzuweisungen, die Verschwörungstheorien gossen zusätzliches Öl ins Feuer aus Angst und Panik landesweit. Alle Versuche, die Bäume mit teuren Injektionen, Gebeten in den Kirchen und sogar Musiktherapien zu retten, schlugen fehl.

 Das märchenhafte grüne Meer der im Sonnenlicht zart silber glitzernden Olivenhaine, wie ich sie 1982 vorgefunden habe, ist dahin. Selbst die lebendigen Zeugen der Antike – die tausendjährigen Bäume – sind auch tot.  

Was tun? Nicht aufgeben, meinte Vincenzo von Anfang an: Die toten Bäume fällen, die Wurzeln roden, die Äcker neu pflügen und mit jungen Bäumen bepflanzen. Eine gigantische Aufgabe und kein Cent Hilfe vom Staat. 370 Leccino und 100 Favolosa, drei- und vierjährige resistente Olivenbäumchen, stehen nun in Reih und Glied auf seinen Feldern. Sie tragen bereits Früchte. Doch die volle Fruchtbarkeit entfaltet der Baum erst in 30 Jahren. Ein schwacher Trost für den 81jährigen Vincenzo. Den Staffelstab hat nun Sohn Paolo übernommen (53). 

Hoffentlich überleben die Frischlinge. Denn tückisches Xylella kann gehäuft mutieren und wiederkehren. Zur Zeit bewegt sich die Plage weiter nordwärts. Gelingt es nicht, sie zu stoppen, tötet sie weitere Millionen Bäume.  

Vincenzos Leidenschaft für den Wunderbaum Olive vermochte selbst Xylella nicht zu brechen: Er produziert weiter Öl. Doch welche Menge? Paolo Stefanelli erklärt: „Dank Xylella stürzte 2022 der Olivenertrag auf 3,5 Zentner! Im November beginnt die Erntezeit. Wie sie heuer ausfällt, ist ungewiß.“ 

 „Nun haben wir die Häuser, aber keine Mittel, die laufenden Unterhaltskosten zu begleichen“, resümiert ein tief besorgter Vincenzo. „Die Kosten sind seit 2013 ins Horrende gestiegen. Auch auf den Feldern. Die Bewässerung von Olivenplantagen alleine kostet über 1.500 Euro jährlich. Der Anbau von Gemüse hingegen verbraucht viel Wasser, der monatliche Preis dafür liegt bei 200 Euro Das Geschäft lohnt sich nicht mehr.“

Das Unglück vernichtete Tausende Arbeitsplätze sowie die Existenzgrundlage fast aller Olivenbauern. Wie vor 60 Jahren verlassen schon wieder traumatisierte Menschen ihr Salento. Matteo, der Enkel von Vincenzo, befindet sich bereits in der Schweiz. Auf der Suche nach einem Job.