© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Anarchokapitalist gegen die „Dekadenz“
Argentinien: Der überraschend gewählte neue libertäre Präsident Javier Milei will das krisengeschüttelte Land wiederaufbauen
Wolfgang bendel

Javier Milei, neugewählter Präsident Argentiniens, zeigte sich überwältigt von seinem überraschend hohen Wahlsieg und rief seinen Anhängern zu: „Heute beginnt der Wiederaufbau Argentiniens. Der heutige Tag markiert das Ende der Dekadenz Argentiniens. Das Verarmungsmodell des allgegenwärtigen Staates geht zu Ende.“ Zudem sei er der erste „libertäre Präsident in der Geschichte der Menschheit“. 

Milei erhielt in der Stichwahl knapp 56 Prozent, sein Gegenkandidat von den Linksperonisten, Sergio Massa, kam auf 44 Prozent. Alle Umfragen hatten ein wesentlich knapperes Ergebnis vorausgesagt. Milei legte gegenüber dem ersten Durchgang um 26 Prozentpunkte zu, Massa nur um acht. Der Großteil der Wähler gescheiterter Kandidaten des ersten Durchgangs hatten sich also Milei zugewandt. Der Wahlkampf war von einer bisher nicht gekannten Polarisierung geprägt. Die chaotische wirtschaftliche Situation und die weit auseinander liegenden Politikvorstellungen der beiden Kandidaten trugen dazu bei.

Milei, der sich gelegentlich als „Anarchokapitalist“ bezeichnet, verdankt seinen Wahltriumph vor allem den Stimmen vieler junger Argentinier. Diese dachten im Gegensatz zu vielen älteren Landsleuten, daß es nicht ihre Perspektive sein kann, den Rest ihres Lebens mittels Staatshilfen zu fristen. Stattdessen wollen sie ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, was ohne eine grundsätzliche Änderung der Politik unmöglich ist. 

In seinem Wahlprogramm hatte Milei sehr deutliche Forderungen vorgetragen. Darunter die Abschaffung der Zentralbank, die Reduzierung der Zahl der Ministerien von derzeit 18 auf acht. Darüber hinaus würden sie seinem Vorschlag zufolge ein Ministerium für Humankapital schaffen, das aus einer Zusammenlegung der Ministerien für soziale Entwicklung, Bildung und Gesundheit hervorgehen würde, umfangreiche Privatisierungen, eine grundsätzliche Reform des Gesundheits- und Erziehungswesens, Abbau des enorm aufgeblähten staatlichen Apparats, die Einführung des Dollars als Landeswährung, Recht auf das Führen von Waffen. Den Klimawandel bezeichnete er gelegentlich als „sozialistische Lüge“.

Gerade die Einführung des Dollars beziehungsweise die fixe Parität des argentinischen Pesos mit der amerikanischen Währung ist eine problematische Forderung. Sie wurde schon einmal unter der Regierung Carlos Menem Ende des 20. Jahrhunderts versucht, scheiterte aber vollkommen und mußte wieder rückgängig gemacht werden. Inflationäre Tendenzen, die durch eine Abwertung des Pesos nicht abgepuffert werden konnten, hatten dazu geführt, daß Buenos Aires zur teuersten Großstadt der Welt geworden war. Die Exporte brachen ein, die Importe explodierten.

Die zusammen mit ihm gewählte Kandidatin für die Vizepräsidentschaft Victoria Villarruel, eine Anwältin und Parlamentsabgeordnete, steht traditionellen katholischen Vereinigungen wie der Priesterbruderschaft St. Pius X nahe. Im Gegensatz zu Milei, der sich in gesellschaftspolitischen Angelegenheiten wie Transgender eher bedeckt hält, bezieht Villarruel diesbezüglich eine eindeutigere Position.

 Der Klimawandel ist eine „sozialistische Lüge“ 

In Aufarbeitung der Ereignisse vor und während der Militärregierung in den 1970er Jahren fordert sie, auch die Verbrechen der Guerilla zu thematisieren und nicht nur die Untaten der Militärs. Dies brachte ihr heftige Vorwürfe seitens der Medien und der etablierten Politik ein, die gern vergessen lassen wollen, daß in solchen Zeiten Verbrechen auf beiden Seiten passieren und eine Seite nicht grundsätzlich freigesprochen werden kann. 

Der Wahlverlierer Sergio Massa, aktueller Wirtschaftsminister und damit hauptverantwortlich für das wirtschaftliche Chaos im Land (über 40 Prozent Armutsquote und 140 Prozent Inflation, beide Daten mit steigender Tendenz) erklärte noch vor der Veröffentlichung der ersten offiziellen Resultate: „Die Ergebnisse sind nicht das, was wir erwartet haben. Ich habe mit Javier Milei kommuniziert, um ihm zu gratulieren.“ Warum in einer solchen Situation ausgerechnet ein gescheiterter Wirtschaftsminister für die regierenden Linkspopulisten antrat, wird für immer deren Geheimnis bleiben.

Ein weiterer Verlierer ist Brasiliens linker Präsident Lula da Silva, der Massa massiv unterstützt hatte. Wobei fraglich ist, ob diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarlandes bei den nationalstolzen Argentiniern besonders gut ankam. Lula gratulierte Milei zum Wahlsieg, vermied es dabei aber, dessen Namen zu nennen.

Gleichzeitig gab es Teilwahlen zum Abgeordnetenhaus und zum Senat. Im argentinischen Abgeordnetenhaus hält die bisherige Regierungskoalition Unión por la Patria (Union fürs Vaterland) jetzt 107 Sitze (minus 11), die liberalkonservative Opposition Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) 93 Sitze (minus 24), Provinzparteien 15 Sitze und die extreme Linke fünf Sitze. Gewinner ist die Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) von Milei, die von drei auf 37 Sitze anstieg. Zusammen mit den Liberalkonservativen würde es für Javier Milei zu einer Mehrheit reichen. Im Senat ist die Situation hingegen weniger eindeutig und eine Mehrheit für Milei zur Zeit noch nicht sicher.