© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/23 / 24. November 2023

Wer’s glaubt
Kirchen in der Krise: Nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen gehört einer der beiden großen Konfessionen an
Karlheinz Weissmann

Man kann den Rücktritt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus (siehe Infokasten), als Einzelfall betrachten, vergleichbar dem Scheitern anderer Manager anderer Unternehmen, wenn sie Gefährdungen ihres Amtes falsch einschätzen. Man kann ihn aber auch als Symptom der Krise bewerten, in der nicht nur der deutsche Protestantismus, sondern das organisierte Christentum des Landes überhaupt steht.

Für die zweite Deutung sprechen die Ergebnisse der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), die von der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben wurde. Ihre Ergebnisse sind einerseits deprimierend, andererseits kaum überraschend, es sei denn, man gehört zu den „Kirchenfernen“, die die Sache sowieso nicht interessiert; oder zu den „Berufs-Christen“, die eine fatale Neigung haben, ganz eingekapselt in ihrem Milieu zu leben. 

Für den großen Rest der Zeitgenossen werden die Daten ihrer Alltagserfahrung entsprechen: Denn nur mehr 13 Prozent der Deutschen vertreten „kirchlich-religiöse Einstellungen“ im traditionellen Sinn, lediglich die Hälfte glaubt an Gott und nur ein Fünftel im Sinne der biblischen Lehre, während die übrigen eher diffuse „spirituelle“ Anschauungen vorziehen. Dem steht auf der anderen Seite eine deutlicher konturierte „säkulare“ Position gegenüber, gespeist aus Materialismus, Wissenschaftsgläubigkeit und gesunder Skepsis gegenüber einer Organisation, deren Aufgabe in einer modernen Gesellschaft nicht einmal die eigene Führung hinreichend klar bestimmen kann.

Allerdings wird erst beim Vergleich der aktuellen Daten mit denen der ersten KMU von 1972 das Ausmaß des Niedergangs erkennbar, den das Christentum in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Im Prinzip war dessen Stellung seit dem Zeitpunkt der Trennung von Staat und Kirche nach dem Ersten Weltkrieg fast unverändert geblieben: Die Bevölkerung der Bundesrepublik blieb eindeutig christlich geprägt, bestand zu 46 Prozent aus Protestanten und zu 44 Prozent aus Katholiken. Lediglich fünf Prozent gehörten zu kleineren christlichen Gemeinschaften oder fremden Religionen. Diese Situation veränderte sich nur sehr langsam. 

Aber dann bekamen die Kirchen mit der Wiedervereinigung die Folgen des staatlich verordneten Atheismus in der DDR zu spüren, der zu einem rapiden Schwund der Kirchenmitgliedszahlen geführt hatte. Trotzdem waren 1990 noch 37 Prozent der Einwohner Gesamtdeutschlands evangelisch und 36 Prozent katholisch. Der Anteil der Konfessionslosen schnellte aber auf 22 Prozent hoch – mit einem Schwerpunkt im „Beitrittsgebiet“ –, und fünf Prozent rechneten sich einer anderen Glaubensrichtung zu. 

Dagegen sieht der heutige Befund folgendermaßen aus: Verblieben sind lediglich 23 Prozent Evangelische und 25 Prozent Katholische, 43 Prozent Konfessionslose, 9 Prozent andere, davon mindestens die Hälfte Muslime, aber auch kleinere christliche Denominationen wie Orthodoxe oder Freikirchler. Setzt sich diese Entwicklung fort – wovon die KMU ausgeht –, wird der Anteil der Christen im kommenden Jahr unter die Fünfzigprozentmarke sinken, während 2027 die Konfessionslosen die Mehrheit in der Bevölkerung stellen dürften.

Schlechte Aussichten für Rechristianisierung 

Weder die Verfasser der Studie noch deren Auftraggeber rechnen damit, den Prozeß aufhalten zu können. Es geht offenbar nur darum, sich angesichts schwindenden Rückhalts und schwindender Ressourcen einzurichten. Das gedenkt die evangelische Seite zu tun, indem sie durch karitative Tätigkeit und soziale Einrichtungen nachweist, daß sie weiter „relevant für das Leben“ der Menschen ist und in ideologischer Hinsicht – mehr Kampf fürs Klima und gegen Rechts, mehr Migration, mehr Unterstützung der LGBTQA – noch stärker „klare Kante“ zeigt, um Annette Kurschus zu zitieren. An eine Korrektur der Linkslastigkeit des deutschen Protestantismus ist also nicht zu denken. 

Eher bestimmt den Kurs eine Flucht nach vorn, in der Hoffnung, Anschluß an einen Trend zu finden, den man für zukunftsträchtig hält. Das katholische Konzept unterscheidet sich davon nur um Nuancen. Hier wird betont, daß vielfach der sogenannte Reformstau – im Hinblick auf Zölibat, Frauenordination, Mitbestimmung der Laien – zur Abwendung und in letzter Konsequenz zum Kirchenaustritt führt. Den Mißbrauchsskandal thematisiert die KMU allerdings nur an einer Stelle. Offenbar setzt die katholische Seite zwecks Bewältigung der „multiplen Krisen“ ganz auf ein neues Aggiornamento, also die „Aktualisierung“, die ja nicht nur die Ausrichtung der Deutschen Bischofskonferenz, sondern auch – wenngleich mit anderem Akzent – die Linie des Heiligen Stuhls bestimmt.

Bezeichnenderweise gibt es in den Reaktionen auf die Ergebnisse der KMU keinen Hinweis, daß die Kirchenführungen eine Rechristianisierung der Bevölkerung in Angriff nehmen wollen. Das spricht zwar nicht für Glaubensfestigkeit, aber für Realismus. Denn tatsächlich dürften die Aussichten dafür schlecht sein. Nur sechs Prozent derjenigen, die der Kirche den Rücken gekehrt haben, äußern, es täte ihnen „irgendwie leid, ausgetreten zu sein“. Der ganz große Rest hat einen Schlußstrich gezogen. Und es spricht auch nichts für die Annahme, daß das durch eine radikale theologische und kirchenpolitische Umkehr – die Abwendung der Protestanten vom Politisieren, die Rückkehr der Katholiken zu ihrer authentischen Überlieferung – korrigierbar wäre. Denn die Daten der KMU zeigen einen Traditionsabbruch, der so tief geht, daß keine „Restauration“ Aussicht auf Erfolg hätte.

Die tieferen Ursachen dieses Einschnitts werden in der KMU nicht einmal angedeutet. Das dürfte vor allem damit zu tun haben, daß man sonst zwangsläufig auf den Niedergang der kirchlichen Eliten zu sprechen kommen müßte. Denn die Zeiten, in denen das evangelische Pfarrhaus eine Art geistlichen Adel hervorbrachte, sind ebenso vorbei, wie die, in denen es sich eine katholische Familie zur Ehre anrechnete, einen der Söhne für das Priesteramt zu bestimmen. Unter denjenigen, die heute Pfarrer oder Pastor werden, sind nur ausnahmsweise Männer und Frauen zu finden, die man sich genauso gut als Firmenchefs, Offiziere, Spitzenbeamte oder Politiker in verantwortlicher Stellung vorstellen kann. Der Prozeß der sozialen „Siebung“, der noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verläßlich arbeitete, ist längst zum Stillstand gekommen. Das erklärt auch, warum in den Gemeinden wie den vorgesetzten Stellen so wenige zu finden sind, die ein inneres Verhältnis zu der Aufgabe haben, die sie versehen. Was sich fatal auswirkt, weil damit der Verlust der überpersönlichen „Leitidee“ (Maurice Hauriou) zusammenhängt, ohne die keine Institution bestehen kann.

Doch das ist es nicht allein. Der Eintritt in das nachchristliche Zeitalter, dessen Zeugen wir werden, vollendet auch jenen Prozeß der Verweltlichung, der zu den Merkmalen des europäischen Sonderwegs gehört. Während in allen uns bekannten Kulturen Religion das identitätstiftende Band der konkreten Gemeinschaft war, hat im Abendland schon während des Mittelalters ein Wandel begonnen, der die Religion zuerst individualisiert und dann verinnerlicht und dann zur „Privatsache“ gemacht hat. Das bedeutet nicht, daß sie auf unserem Kontinent ganz verschwinden wird – dagegen spricht schon die massenhafte Einwanderung von Muslimen –, aber das Christentum als prägende Kraft unseres Landes wird es in Zukunft kaum noch geben.





Kein Vertrauen mehr 

Der Druck aus den eigenen Reihen wurde offenbar zu groß. Am Montag ist die bisherige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, zurückgetreten. Der 60jährigen Theologin wird vorgeworfen, sie habe nichts unternommen, nachdem sie über Mißbrauchsvorwürfe gegen einen damaligen Kollegen im Kirchenkreis Siegen, mit dessen Familie sie befreundet war, informiert worden sei. Kurschus beteuert, sich an entsprechende Schilderungen der mutmaßlichen Opfer nicht erinnern zu können; nur daß es um die homosexuellen Neigungen des verheirateten Mannes gegangen sei. Kritiker im Rat der EKD hielten Kurschus zudem vor, die nun gegen sie erhobenen Vorwürfe intern nicht rechtzeitig und transparent kommuniziert zu haben. Doch die nach zwei Amtsjahren Zurückgetretene schreibt in ihrer Erklärung: „In der Sache bin ich mit mir im reinen. Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“ Noch offen ist, wer – und wann – zum Nachfolger Kuschus’ gewählt wird. Kommissarisch leitet ab sofort die stellvertretende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche, die EKD. (vo)