Offiziellen Darstellungen zufolge beging die deutsche Schutztruppe als Reaktion auf den Aufstand der Herero in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. So schreibt etwa der Historiker Horst Gründer in seiner „Geschichte der deutschen Kolonien“ (Paderborn 2018), die Deutschen hätten am Waterberg „die Hauptmasse“ der Herero „in einer Kesselschlacht am 11. August 1904 vernichtet bzw. an der Durchbruchstelle in die wasserarme Omaheke getrieben“. Danach habe, so verbreitet die Bundeszentrale für politische Bildung, die Schutztruppe unter General Lothar von Trotha „die Wüste monatelang abgeriegelt“. Von ursprünglich „60.000 bis 80.000 Herero überlebten nur etwa 16.000, genaue Opferzahlen sind jedoch umstritten“. Gegen diese Darstellung gibt es eine Reihe von Einwänden. Angesichts der Milliardenforderungen an den deutschen Steuerzahler zur Wiedergutmachung eines von deutschen Politikern eingestandenen „Völkermords“ wäre zuvor mindestens ein Historikerstreit fällig, der anhand historischer Quellen die Unstimmigkeiten prüft und richtigstellt.
l Erstens. Maximilian Bayer, Hauptmann im Stab von Trothas, spricht in seinen Erinnerungen von 60.000 Herero, davon 6.000 Kriegern, die sich um den Waterberg versammelt hätten. Diese Zahl war eine reine Vermutung. Der nach Namibia ausgewanderte russische Historiker Nikolai Mossolow zitiert einen ehemaligen Kämpfer und späteren Farmbesitzer am Kleinen Waterberg mit den Worten, daß „für eine so kolossale Menschen- und Viehansammlung das Wasser niemals gereicht hätte“ und dort „höchstens 30.000 Menschen mit ungefähr 10–12.000 Kopf Großvieh Platz finden“ konnten.
„Die Bevölkerungszahl der Herero vor dem Krieg ist einfach nicht bekannt“, erklärt die Historikerin Brigitte Lau, die an der Universität Kapstadt Afrikanische Geschichte studierte und von 1991 bis zu ihrem frühen Unfalltod im Jahre 1996 das Nationalarchiv von Windhuk leitete; deshalb sei eine Auskunft über die Verluste unmöglich. Auch Klaus Lorenz, Oberstleutnant der Bundeswehr und 1999 Autor einer Magisterarbeit namens „Die Rolle der Kaiserlichen Schutztruppe als Herrschaftsinstrument in Südwestafrika“, eingereicht und an der Universität Hamburg mit „Sehr gut“ benotet, ist der Ansicht, die Zahl der Herero müsse deutlich niedriger angesetzt werden; schon vor 1904 seien „große Teile in die unkontrollierbaren Weiten des südlichen Afrikas“ ausgewichen. Bis zu 15.000 Herero fluteten nach damaligen Zählungen ins deutsche Kolonialgebiet zurück. Wie viele in die britische Kolonie Betschuanaland durchkamen und wie viele in der Omaheke starben, ist unbekannt.
l Zweitens. Was die Deutschen „Schlacht am Waterberg“ und die Herero „Kämpfe von Hamakari“ nennen, war keine Schlacht, sondern eine Abfolge zerstreuter Gefechte, vor allem keine Kesselschlacht – ein deutscher „Kessel“ war bei vierzig Kilometern Gesamtfrontlänge inmitten eines von stacheldrahtartigen Kameldornholzbüschen durchzogenen Gebietes, das die Herero sehr gut und die Deutschen überhaupt nicht kannten, eine Wunschvorstellung –, und es war auch kein deutscher Sieg. Der amtliche Kriegsbericht des Generalstabs habe versucht, „die Tatsache zu beschönigen, daß sich die Truppe nach den Schlachten von Hamakari in vollkommener Unordnung und Verwirrung befand und noch nicht eingesehen hatte, daß der Hererokrieg eigentlich vorüber war“, schreibt die Historikerin Lau. Nach den unentschieden ausgegangenen Gefechten habe die Schutztruppe „nicht die leiseste Ahnung davon“ besessen, „daß die Herero abermals die Initiative ergriffen hatten und als Nation einen Exodus ins Exil und in den Tod gewählt hatten, anstatt den Krieg fortzusetzen mit der letztendlichen Aussicht auf ein Überleben unter kolonialer Unterdrückung“.
l Drittens. Der Abzug der Herero durch die Omaheke – eine Trockensavanne mit diversen Wasserstellen, aber keine Wüste – wurde von den deutschen Verfolgern nicht direkt erzwungen. Bereits zwei Tage nach den Kämpfen, schreibt Hinrich Schneider-Waterberg, ein deutschstämmiger Farmer und Historiker aus Namibia, der jahrelang zum Thema recherchierte und viele Quellen zusammentrug, sei die deutsche Verfolgung zusammengebrochen, weil die Schutztruppe hungerte, durstete und Hunderte von Pferden und Zugtieren eingegangen waren. Währenddessen setzten die Herero das Steppengras in Brand, vergifteten die Wasserstellen mit Viehkadavern und vergrößerten ihren Vorsprung. In seinem Kriegstagebuch fragte von Trotha am 19. September: „Wo sind die Herero geblieben?“ Am 30. September notierte er: „Verfolgen tue ich nicht mehr. Basta!“ Der Gegner, den er mit letzten Kräften zur Entscheidungsschlacht stellen wollte, war verschwunden.
l Viertens. Vom Waterberg bis nach Ozombo zo Vindimba, wo von Trotha seine berüchtigte Proklamation ausgab, sind es etwa 220 Kilometer. Als die Deutschen fast zwei Monate nach den Gefechten dort ankamen, hatten sich Hererotrupps auf einem riesigen Gebiet verteilt. Die Omaheke ist doppelt so groß wie die Schweiz, und die Truppe bestand am Ende nur noch aus ein paar hundert kampffähigen Männern – an eine „Abriegelung“ war überhaupt nicht zu denken.
Afrikanische Forscher haben inzwischen festgestellt, daß die Herero Routen durch die Kalahariwüste, zu der die Omaheke gehört, seit Jahrhunderten nutzten. Lorenz zufolge hatten die Herero-Führer um Samuel Maherero einen möglichen Exodus nach Osten schon vor dem Aufstand ins Auge gefaßt und mit den Engländern Kontakt aufgenommen. Ein Indiz dafür sei, daß bei der Massakrierung von Weißen während des Aufstandes Briten und Buren gezielt verschont wurden. Die Route durch die Omaheke in das Betschuanaland, fährt Lorenz fort, „wurde nach den Quellen schon vor 1903 außerhalb der Regenzeit von Hererogruppen unbekannter Stärke genutzt“. Das bedeute: „Es müssen mehr Wasserstellen und begrenzt auch mehr Weidegründe als angenommen in der Omaheke vorhanden gewesen sein, so daß für eine begrenzte Zahl von Menschen und Tieren Überlebensmöglichkeiten gegeben waren.“ Lorenz spricht vom „Ende der Omaheke-Legende“.
l Fünftens. General von Trothas „Vernichtungsbefehl“ gilt „als Grundlage für den Völkermord“, liest man in der Wikipedia. Das ist falsch. Am 1. Oktober hatten die Deutschen alle Vorräte aufgebraucht, Krankheiten dezimierten die Truppe immer mehr, Pferde und Zugochsen gingen massenhaft ein, die Nachschubversorgung funktionierte kaum noch. In dieser Lage erst fabrizierte von Trotha seine berüchtigte „Proklamation an das Volk der Herero“. „Das Volk der Herero muß das Land verlassen“, verkündete der General. „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“ Am 2. Oktober las er den Aufruf selbst der Truppe vor, und tags darauf wurden ungefähr dreißig Alte, Frauen und Kinder mit einer übersetzten Version in die Omaheke geschickt, auf daß sie ihr Volk informierten – niemand weiß, ob einer dieser Todgeweihten überlebte. Danach trat von Trotha mit Stab und Truppe den Rückzug nach Windhuk an. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Anführer der Herero, Samuel Maherero, längst auf britischem Gebiet. Die Proklamation war der Theaterdonner vor dem Abzug – von Trotha wollte sein Scheitern in Berlin als einen Sieg verkaufen. Der General mag tatsächlich zur Vernichtung möglichst vieler Herero bereit gewesen sein, er besaß, wie der Chef des Generalstabes, Alfred von Schlieffen, in einem Schreiben an Reichkanzler Bernhard von Bülow feststellte, „nur nicht die Macht, sie durchzuführen“.
l Sechstens. Die Soldaten der Schutztruppe, die angeblich eine Savanne abriegelten und einen Genozid begingen, waren von Wassermangel und Krankheiten zermürbt, sie starben in großer Zahl an Typhus, Malaria, Gelbsucht, durch Selbstmord und an der Ruhr. Von den insgesamt 20.867 deutschen Kriegsteilnehmern in Südwestafrika zwischen 1904 und 1907 „verließen“ dem Sanitätsbericht zufolge 13.029 die Truppe; über 10.000 davon wurden verwundet oder krank nach Hause geschickt. Das deckt sich mit einer Notiz von Hauptmann Bayer: „Schon Anfang Juni waren zehn Prozent unserer Abteilung krank, das war so viel, wie die Verluste eines schweren Gefechts! Am 12. Juni betrug unsere Stärke an Weißen und nur noch 29 Offiziere, 528 Unteroffiziere und Reiter, vier Ärzte, zwei Veterinäre und zwei Postbeamte. Zu dieser Zeit lagen bereits 83 Mann im Lazarett, davon 61 Typhuskranke.“ Der Sanitätsbericht zeige „nicht die Geschichte einer gewaltigen Kriegsmaschine aus kaltblütigen Killern, sondern ein Bild des Elends, der Unfähigkeit, des Leidens und der Schwäche“, kommentiert Lau. „Es ist einfach nicht wahr, daß, sobald der Morgen des 12. August bei Hamakari graute, die deutsche Truppe aufbrach, um die entflohenen Herero ins Sandfeld zu treiben, damit sie dort umkämen, wie es die gegenwärtige Mythe angibt.“ Die Gesamtzahl der direkt im Feldzug gegen die Herero eingesetzten Soldaten betrug der Historikerin zufolge maximal 4.700 Mann, „von diesen sind 2.000 oder 3.000 gestorben“. General von Trotha hätte ein deutscher General Custer werden können.
Völkermord an den Herero – Genese einer Theorie
Am Anfang stand das „Blaubuch“. 1917 verfaßte der britische Major Thomas Leslie O’Reilly den „Report on the Natives of South West Africa and their Treatment by Germany“, welcher diverse Greuel aufzählt, die sich ab 1904 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zugetragen haben sollen. In Versailles 1919 diente dieses „Blue Book“ den Briten vor allem dazu, den Deutschen die moralische Eignung als Kolonialmacht abzusprechen. 1926 zog London die wegen nachgewiesener Fälschungen überführte Propagandaschrift verschämt zurück. Das Buch „von geringem historischen Wert“ (Oxford History of the British Empire) war allerdings immer noch gut genug dafür, um als maßgebliche „Quelle“ des marxistischen DDR-Historikers Horst Drechsler zu dienen, der diese in seiner Habilitationsschrift 1966 als Beleg für den genozidalen Charakter des Kolonialkrieges heranzog. Dieser Völkermord sollte nicht zuletzt die Kontinuitätsthese von Imperialismus und Faschismus untermauern. Bei dem linken Hamburger Historiker und damaligen APO-Mitglied Helmut Bley fanden Drechslers Thesen auch in der Bundesrepublik ihren Adepten, der bis über seine Emeritierung 2003 hinaus für die politische Anerkennung des Hererokrieges als Völkermord kämpfte. Schützenhilfe bekam er dabei von dem Historiker Jürgen Zimmerer, dessen Werk („Völkermord in Südwestafrika“, Berlin 2003), rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Hererokrieges herausgegeben, diese Debatte befeuerte und dabei die Kontinuität des „ersten von Deutschen verübten Völkermords als wichtigen Schritt hin zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg“ betonte. Zimmerers Analyse fand seit 2004 auch in der Berliner Außenpolitik Gehör. Er selbst konnte damit akademisch reüssieren. Der heute an der Universität Hamburg lehrende Historiker und Mitbegründer des „International Network of Genocide Scholars“ ist zudem bundesdeutscher Wortführer des Postkolonialismus. (bä)