© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Ein Halali für das Einwanderungsparadies
Der „Anwerbestopp“ von 1973 sollte sich als einer der folgenreichsten Fehlschläge in der bundesdeutschen Migrationssteuerung erweisen
Michael Paulwitz

Mit ein paar nüchternen maschinengeschriebenen Zeilen wies Bundesarbeitsminister Walter Arendt am 23. November 1973 die Bundesanstalt für Arbeit und ihre Auslandsdienststellen an, „ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen“. Der „Anwerbestopp“ sollte sich als einer der folgenreichsten Fehlschläge auf dem langen Irrweg der Bundesrepublik Deutschland in den migrationspolitischen Kontrollverlust erweisen. Im Ergebnis markierte der Erlaß den Übergang von der gesteuerten Arbeitsmigration zur ungeregelten Einwanderung in die Sozialsysteme.

Die Furcht vor einer neuerlichen wirtschaftlichen Rezession nach dem Erdölboykott, den die arabischen Förderländer wegen des Jom-Kippur-Krieges gegen Israel (JF 41/23) ausgerufen hatten, war nur der äußere Anlaß für diesen Schnellschuß des Bundesarbeitsministers. Tatsächlich war sich die Politik in den vorangegangenen Jahren auch der nicht mehr zu leugnenden sozialen und innenpolitischen Folgen des Zuzugs wachsender Zahlen von „Gastarbeitern“ bewußt geworden.

Bereits im Zuge der Rezession von 1967 und 1968 stellten Politik und Ökonomie die Fortsetzung und Ausweitung der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer grundsätzlich in Frage. Neben Bedenken wegen wachsender sozialer Konflikte spielten dabei auch Sorgen um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft eine Rolle: Die Produktivitätssteigerung hinkte nach, weil die leichte Verfügbarkeit zusätzlicher billiger Arbeitskraft den Zwang zur Rationalisierung bremste.

Die Initiative zu den seit 1955 mit Italien und weiteren südeuropäischen Staaten und 1961 auch mit der Türkei abgeschlossenen Anwerbeabkommen war von den Entsendestaaten ausgegangen, die ein Interesse an der Entlastung ihrer Arbeitsmärkte und am Ausgleich ihrer steigenden Handelsbilanzdefizite mit der rasch aufsteigenden westdeutschen Volkswirtschaft hatten. 1972 konnte etwa die Türkei ihr Handelsbilanzdefizit mit der Bundesrepublik durch die Geldüberweisungen türkischer Gastarbeiter in die Heimat in Höhe von über zwei Milliarden D-Mark faktisch ausgleichen.

Daß ausländische Arbeitskräfte für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Deutschland benötigt worden wären, ist ein nachträglich von der Migrationslobby gestreuter Mythos. Das Wirtschaftswunder war bereits in vollem Gange, und die Bundesrepublik Deutschland hatte sich schon wieder einen der vorderen Plätze in der Weltwirtschaft erarbeitet, als die ersten Gastarbeiter kamen, deren Tätigkeit zunächst auch nur als Saisonarbeiter für die Landwirtschaft und für das Hotel- und Gaststättengewerbe geplant war. 

Auf Druck der USA hatte die Bundesregierung letztlich dem Drängen der Entsendestaaten, die auch Nato-Partner waren, nachgegeben. Insbesondere die wirtschaftlich schwächelde Türkei an der Südflanke des Bündnissen sollte eng an die europäischen Nato-Staaten gebunden werden. Das anfangs federführende Außenministerium hatte zunächst strikt auf Einhaltung des Rotationsprinzips bestanden: Ausländische Arbeitnehmer konnten je nach Bedarf mit befristeten Verträgen ins Land kommen, mußten nach Ende der Laufzeit zurückkehren, konnten sich aber anschließend wieder anwerben lassen. Das war auch im Interesse der Arbeitnehmer, überwiegend ledige junge Männer, die ein paar Jahre gut verdienen und sparen wollten, um sich später in der Heimat eine Existenz aufbauen zu können.

Mehr als ein Jahrzehnt funktionierte diese Steuerung, auch wenn das Rotationsprinzip schon frühzeitig durch die Nachzugsmöglichkeit für Ehefrauen und Kinder und die Option für dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen nach gewissen Fristen aufgeweicht wurde – nicht zuletzt auf Wunsch der Wirtschaft, die bereits angelernte Kräfte gern behalten wollte. Zwischen 1955 und 1973 kamen auf diesem Wege rund 14 Millionen Arbeitnehmer nach Deutschland, während elf Millionen wieder zurückkehrten. Während der Rezession von 1967 sank die Zahl der Gastarbeiter von 1,3 Millionen auf 900.000, um bis 1971 schon wieder auf über zwei Millionen zu steigen. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps befanden sich knapp vier Millionen ausländische Staatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland, die 6,4 Prozent der Wohnbevölkerung stellten. 

Trotz „Anwerbestopp“ wuchs dieser Anteil bis 1980 um eine halbe Million Zuzüge auf 7,2 Prozent. Das Gros der Griechen und Spanier kehrte in ihre Heimatländer zurück, in denen sich die Lage nach dem Ende der Diktaturen und dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zunehmend besserte. Die Zahl der Italiener, für die als EWG-Angehörige der Anwerbestopp nicht galt, blieb fast konstant. Dagegen verdoppelte sich die Zahl der offiziell gemeldeten Türken binnen weniger als einem Jahrzehnt von 712.000 im Jahr 1972 auf 1,46 Millionen im Jahr 1980.

Der Familiennachzug blieb nach 1973 weiter bestehen

Grund dafür war ein verhängnisvoller Konstruktionsfehler im überstürzt erlassenen Anwerbestopp. Dieser begrenzte zwar den Neuzuzug von Arbeitnehmern, auch vor dem Hintergrund, daß der Türkei im Rahmen des EWG-Assoziierungsabkommen auch Arbeitnehmerfreizügigkeit in Aussicht gestellt wurde. Das Recht auf Familiennachzug bestand aber weiter. Türkische Arbeitnehmer, die fürchteten, nach einer Rückkehr in die Heimat nicht wiederkommen zu können, blieben und holten Frauen und Kinder nach; wer nur einen befristeten Arbeitsvertrag hatte, tauchte in die Illegalität unter. Bereits 1973 betraf das etwa eine Million nicht registrierte türkische Staatsbürger.

Die Arbeitsmarktaussichten ungelernter Kräfte wurden unterdes nicht besser. Noch bevor Asylzuwanderung und illegale Massenmigration einsetzten, wuchsen und verfestigten sich so in den Großstädten türkische Parallelgesellschaften mit überproportional hohem Arbeitslosenanteil und Sozialhilfebezug. 

Was einmal versäumt worden war – die Rückführung nicht mehr benötigter oder illegal im Land verbliebener Gastarbeiter und die Unterbindung des Familiennachzugs, der im Gegenteil nach 1974 sogar noch ausgeweitet wurde –, ließ sich später kaum noch nachholen. Die nach dem Regierungswechsel 1982 unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls angestoßene Rückkehrförderung über Geldprämien mußte scheitern; auch die türkischen Zuwanderer konnten rechnen.

Auch gesellschaftlich drehte sich der Wind. Inzwischen hatte die kulturmarxistische Migrationslobby die einstigen Gastarbeiter als Ersatzproletariat und Betreuungsobjekt entdeckt. Die Grundlage für die milliardenschwere Moral- und Sozialindustrie, die daraus entstanden ist, hat letztlich vor fünfzig Jahren der fehlgeschlagene „Anwerbestopp“ geliefert.