© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Krieg an der digitalen Front
Berichterstatter der aktuellen Krisenherde sind längst nicht mehr nur Journalisten
Peter Delarge

Auch in Westeuropa tobt der Krieg. Nicht etwa auf der Straße oder dem freien Feld, sondern auf Laptops, Fernsehern und Handys. Der Nahe Osten ist seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel auf allen Bildschirmen und Plattformen präsent. Auch der Krieg in der Ukraine ist längst nicht beendet und füttert die militärische wie humanitäre Informationsflut. Dieser Herr zu werden, wird dabei angesichts der Fülle der Beiträge und der sich ständig verändernden Sachlage immer schwieriger. Während Analysten und Journalisten sich um eine sachlichere Aufarbeitung der Konflikte bemühen, erzielen Falschnachrichten hohe Reichweiten. Das Bild vom Geschehen an der Front wird von unzähligen Akteuren beeinflußt. 

Abseits der klassischen Nachrichten treffen wir im Netz auf neuartige „Kriegsberichterstatter“ und Analysten wie den Militärhistoriker Torsten Heinrich, der auf Youtube die aktuellen Konflikte in kurzen Erklärvideos und mehrstündigen Analysestreams unter die Lupe nimmt. Angefangen beim Ukraine-Krieg, berichtet er mittlerweile auch über das Geschehen in Israel. Er beantwortet in seinen Videos Fragen zu taktischen Optionen oder „Was würde passieren, wenn Rußland jetzt Atomwaffen testen würde?“ und veranschaulicht seine Thesen mit Hilfe von Online-Karten. Und das aktueller als traditionelle Medienhäuser – fast täglich gibt es auf seinem Kanal ein neues Video, 452 finden sich so insgesamt schon auf seinem Kanal. 

Doch man muß kein Militärhistoriker sein, um an die unzensierten Bilder von der Front zu gelangen. Genauso frei verfügbar wie Handyvideos und Datenmaterial in den sozialen Netzwerken sind auch viele Programme, die es einordnen können. Open Source Intelligence (OSINT) ist das Stichwort: Dienste wie Google Earth, mit deren Hilfe sich etwa Kampfhandlungen lokalisieren lassen. Der in den USA verortete X-Account „OSINTdefender“ mit fast einer Million Followern kartiert etwa die Einschlagsorte des Raketenbeschusses der unterschiedlichen Akteure, zeigt Bilder von Demonstrationen oder berichtet über den diplomatischen Austausch im Nahost-Konflikt. Häufig jedoch ohne die Angabe von Quellen.

Zwischen spärlichen Infos und allgegenwärtiger Propaganda 

Journalisten veröffentlichen gern solche Social-Media-Inhalte, kommen aber aufgrund der Informationsfülle mit der Verifizierung kaum hinterher. Neben Analysten und Pressevertretern, die sich um die Korrektheit ihrer Infos bemühen, ruft der Krieg zudem bewußte Manipulatoren von Öffentlichkeit auf den Plan. Propaganda will die eigene Seite erhöhen und den Feind denunzieren. Merkmale der Propaganda sind nach dem Kommunikationswissenschaftler Thymian Bussemer neben der Arbeit mit Sprache und Bildern die starke Unterscheidung in Gut und Böse. In der Logik der Algorithmen ist besonders erfolgreich, was polarisiert oder emotionalisiert. 

Die Terrororganisation Hamas nimmt starken Einfluß darauf, welche Informationen und Bilder den Gazastreifen verlassen und hat sogar eigene Darsteller zur Erstellung von gezielten „Fake News“. Bekannt geworden ist vor allem Saleh Aljafarawi, auch „Mr. FaFo“ (Fuck Around and Find Out) oder „Gaza-Joe“ genannt. Auf verschiedenen Plattformen werden die Inhalte des palästinensischen Laiendarstellers geteilt. Zuerst erschien ein Video, in dem er den Raketenbeschuß der Hamas gefeiert hat, dann zeigte er sich weinend in den Trümmern. Ein Video später sah man ihn in einem Krankenbett, vermeintlich kurz vor seinem Tod. Doch er hat überlebt: Zu guter Letzt zeigte er sich sogar als Radiologe und Journalist. Man muß davon ausgehen, daß die Verbreitung von diesen und ähnlichen Falschnachrichten nicht nur von der Hamas-Führung kontrolliert, sondern auch gezielt gefördert wird. Längst hat sich der spöttische Begriff „Pallywood“ in Online-Foren etabliert.

Auch der russische Staat nimmt mit eigenen Militärbloggern Einfluß auf die Wahrnehmung des Angriffskrieges in der Ukraine. Laut des amerikanischen Institute for the Study of War beschäftigt der Kreml etwa 500 solcher Kriegsinfluencer, die in Rußland den Namen „Z-Blogger“ tragen. Sie agieren nach den Vorgaben der Staatsführung, verurteilen und kritisieren zwar einzelne Generäle oder militärische Vorgehensweisen, nie aber den Überfall auf das Nachbarland. 

Der bekannteste unter ihnen ist Semyon Pegov, auf Telegram besser bekannt unter dem Pseudonym „War Gonzo“. Dort abonnieren ihn etwa 1.150.000 Nutzer für frische Schlachten-News. Zuvor arbeitete er unter anderem im russischen Staatsfernsehen und berichtete bereits seit 2014 über den Krim-Konflikt. Er ist eng vernetzt mit den Separatisten im Donbass und soll mit dem Geheimdienst in Verbindung stehen. Für seinen Einsatz bekam er von Putin sogar den Orden des Mutes verliehen, aus dem Westen gab es lediglich den Vorwurf der Manipulation. Trotzdem stellen russische Blogger manchmal die einzige Quelle über die Geschehnisse in den russisch besetzten Gebieten dar und sind so auch für westliche Dienste und Medien interessant.

Der Mut der Frontberichterstatter wird jedoch nicht nur mit Ansehen vergütet, sondern vor allem mit viel Geld: Laut der BBC soll Pegov pro Beitrag 1.800 Euro verdienen. Die Unterstützung für die Ukraine und Israel gibt es billiger. Nicht nur durch wohlwollende Berichterstattung westlicher Medien, sondern etwa auch durch X-Accounts wie „Visegrad24“ oder „Lyla_lilas“, die ebenso aktuelles Frontmaterial posten sowie viel Folklore und Emotionales: israelische oder ukrainische Soldaten, die in Uniform tanzen, Wiedersehen mit der Familie oder Scherze unter der Truppe. All das dient der Stärkung der Identität und Identifikation. 

Rußland und die Hamas wollen ebenfalls ihre Rückendeckung forcieren und neue Kämpfer rekrutieren – online wie offline und sowohl in der eigenen Bevölkerung als auch in der restlichen Welt. Der US-Amerikaner Jackson Hinkle beispielsweise war bis vor wenigen Monaten kaum bekannt, heute ist sein zwei Millionen Follower starker Account der einflußreichste auf der Plattform X – noch vor Elon Musk selbst. Hinkle selbst bezeichnet sich als Patriot, marxistisch-leninistisch, pro-russisch, pro chinesisch und zu guter Letzt pro-palästinensisch. 

Emotionale Beiträge heizen die Straße und die Algorithmen an

Seine Reichweite erzielt er vor allem mit Emotionen, etwa Bildern von palästinensischen Kindern, die mit Staub und Blut bedeckt mitten in den Trümmern Gazas stehen. Auf welcher Seite er steht, daraus macht er keinen Hehl: „No sane person can look in this child’s eyes and tell me he deserved this … Israel is a terrorist state“, heißt es in einem seiner Postings.

Um den zionistischen Feind ins schlechte Licht zu rücken, scheint Hinkle jedes Mittel recht. Er verbreitete etwa den Vorwurf, Israel habe das Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt beschossen, obwohl Analysen nahelegen, daß eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad das Gebäude traf. Konsequenzen muß Hinkle kaum fürchten, die Anzahl der Follower wächst. 

Denn an der digitalen Front kann jeder kämpfen. Da der Feind hierbei nach Attacken nicht wirklich stirbt, bleibt der Kampf um Informationen ein endloser ohne echte Sieger. Doch das Treiben in den sozialen Netzwerken trägt die Konflikte noch stärker auf die europäischen Straßen. Emotionale Inhalte sind populärer als nüchterne Fakten. Die Wahrheit liegt für immer mehr Nutzer und Zuschauer schon von vornherein in den Augen weinender Kinder.