Die FAZ tat dem Schriftsteller Lukas Rietzschel keinen Gefallen, als sie am 6. September seinen Text „Die Zeit für schöne Worte ist vorbei“ abdruckte. Ein Jahr vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg machte Rietzschel sich Gedanken über die Rettung der Demokratie, denn: „Die Erzählung wird überall die gleiche sein: Antidemokraten gegen Demokraten.“
Rietzschel, 1994 in Sachsen geboren und wohnhaft in Görlitz, ist eine fixe Größe im Kulturbetrieb, seit im September 2018 sein Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ erschien. Er erzählt die Geschichte zweier Brüder, die in der sächsischen Provinz aufwachsen, wo nach 1989 die Welt aus den Fugen geraten ist. Der ältere, Philipp, kriegt die Kurve und findet den geraden Weg, der jüngere, Tobi, wird Nazi. Die Geschichte ist so simpel, daß sie sich als Schullektüre über „Dunkeldeutschland“ (Joachim Gauck) eignet. Eine umsichtige Regie sorgte dafür, daß das Buch bereits vor Ablauf der Rezensenten-Sperrfirst als literarisches Bravourstück und sein Autor als luzider Ostexperte gefeiert wurden.
Autor Lukas Rietzschel spricht sich für ein Verbot der AfD aus
„Mit der Faust in die Welt schlagen“ – erleben wir das gerade in Chemnitz?“, fragte der Deutschlandfunk im August 2018 den Autor und spielte auf jene ominöse „Menschenjagd“ an, die nie stattgefunden hatte. Der damals 24jährige apportierte brav: „Sachsen hat ein ganz klares, strukturelles Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus.“ Das, was in Chemnitz passiert sei, gehöre – wie etwa auch Zwickau mit der NSU-Terrorzelle – zu den radikalen Ausläufern. „Dahinter steht die AfD.“ Eine Rolle bei der Entwicklung des Extremismus spiele freilich auch das konservative bürgerliche Milieu.
Originelle Einsichten und Formulierungen sind Rietzschels Sache nicht. Karriere macht er als literarischer Agent des politisch-medialen Über-Ichs. Für das Theater hat er ein Auftragsstück verfaßt, in dem laut Deutschlandfunk der Kampf „zwischen letztem Rest von Zivilisation und richtungslos-rechtem Terror“ tobt. Im Herbst 2024 soll die Verfilmung des Faustschlag-Romans in die Kinos kommen. Er erhält Preise und Stipendien und wird zu Fernsehdiskussionen geladen. Sogar eine 45minütige Fernsehdokumentation mit dem Titel „Der Grenzgänger“ wurde gedreht. Doch das ist er keineswegs. Der „Ostbeauftragte der Herzen“ (MDR) dreht lediglich seine Runden im Laufstall des Medien- und Kulturbetriebs.
Von einem Schriftsteller darf man erwarten, daß er in der Nachfolge von Hans Magnus Enzensberger den Floskel- und Formelkram der politischen Kommunikation analysiert und zerlegt. Für Rietzschel ist er das Geländer, an das er sich klammert: „Die in Sonntagsreden grundgesetzlich gern zitierte Wehrhaftigkeit der Demokratie muß bedeuten, daß sie in der Lage sein muß, sich notfalls vor der eigenen Bevölkerung zu schützen.“ Eine Demokratie ohne Demos also. Konsequenterweise fordert er das Verbot der AfD und eventueller Nachfolgeorganisationen. Dies sei „für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutsam, Demokratien benötigen ein friedliches Fundament“. Wer das Fundament legen soll und welche Autorität ihn dazu legitimiert und befähigt, das verrät die „Stimme der ostdeutschen Millennials“ (NZZ) uns nicht. Der hofierte Jungautor, der übrigens der SPD angehört, ist wahrlich keine helle Kerze auf der Torte.
Ähnlich steht es mit der Schriftstellerin Anne Rabe, die 1986 in Wismar in Mecklenburg geboren wurde. Ihr Romanerstling „Die Möglichkeit von Glück“ wurde sogar auf die Shortlist für den diesjährigen Buchpreis gesetzt, was der Autorin viel öffentliche Aufmerksamkeit bescherte.
Rabes Buch ist der Roman einer lieblosen Kindheit und Jugend im Osten nach der Wiedervereinigung. Die Autorin zieht straffe Linien zurück in die NS-Zeit, mit der „Opa Hänsel und Uroma Gretel“ nichts zu tun gehabt haben wollen, und natürlich in die DDR: „War Ihre Familie in das SED-Regime verwickelt? Die Fragen werden nicht gestellt. Man befragt uns nicht dazu und mißt daran auch nicht den Grad unseres politischen Bewußtseins oder den Zustand der Republik.“ Ein bißchen mehr Lektorat hätte zumindest dem Sprachbewußtsein der Schreiberin aufhelfen können. Auf jeden Fall lebt es sich bis heute grauenvoll inmitten der Nazi-SED-Erbschaft, wo „man sich nie sicher sein kann, ob das Gegenüber nicht heimlich darüber fantasiert, dich und deine Kinder beizeiten zu vergasen. Wenn um euch herum nur Deutsch gesprochen wird und man einander vor ‘Zuständen wie in Berlin oder Köln’ warnt.“ Um Neuköllner Zustände braucht eine aufgeklärte deutsche Kartoffel sich ja nun wirklich nicht zu sorgen.
Traurige Kindheiten gab und gibt es in Ost wie West. Darüber wurden einfühlsame Bücher geschrieben, die gleichfalls in die Geschichte eintauchen, aber ohne in tagespolitisches Schlagwort-Vokabular zu verfallen. Ulla Hahns Roman „Das verborgene Wort“ spielt am Niederrhein, Hans-Ulrichs Treichels Novelle „Der Verlorene“ in Ostwestfalen. Sophie Dannenbergs Buch „Das bleiche Herz der Revolution“ enthält beklemmende Szenen von Psycho-Sadismus, ausgeübt von 68er Eltern, die der antiautoriären Erziehung huldigen.
Gewalterfahrungen im Osten und westliche Übergriffigkeit
Anne Rabe legte ihre Sicht ausführlich in einem Tagesspiegel-Interview dar. Die Überschrift lautet: „Im Osten gibt es eine vererbte Brutalität.“ Als erste Referenz muß – was sonst? – „Chemnitz“ herhalten. Sie tritt damit in die Fußstapfen der Osterklärerin Ines Geipel, die die Ex-DDR als „Wasteland“, als verseuchte Ödnis, beschreibt. Es ist ja richtig und nötig, den Nachwirkungen erlebter und ererbter Gewalterfahrungen nachzuspüren. Davon gibt es in Deutschland mehr als genug: zwei verlorene Weltkriege, die Bombennächte, zwei Diktaturen, millionenfacher Heimatverlust, die Teilung des Landes, das Schuldtrauma, das zudem eifrig geschürt wird.
Anne Rabe hat recht, wenn sie das Schweigen über den stalinistischen Terror in der DDR anspricht. Leider ist ihr Blick von persönlichen und politischen Ressentiments verstellt, daß sie das Menschlich-Allgemeine in der spezifischen DDR-Erfahrung übersieht.Worin drückt sich die vererbte Ost-Brutalität heute aus? Rabe: „Manche haben Angst davor, eine andere Meinung zu sagen als die Gemeinschaft.“ Nun, neue Umfragen haben ergeben, daß nicht mal jeder zweite glaubt, daß man in Deutschland seine Meinung frei sagen kann. Zwischen Ost und West gibt es keinen Unterschied.
Brüchig gewordene Erzählungen sollen befestigt werden
Zu den spezifischen Gewalterfahrungen im Osten wäre auch die autoritäre Übergriffigkeit zu zählen, mit der die West-Narrative über die Ex-DDR-Bürger gestülpt wurden. Wer im Osten meinte, im vereinten Deutschland die Übergriffe durch Rotarmisten, die Vergewaltigungen, Morde, Deportationen, die Vertreibungen, die sogenannten Speziallager der Sowjets thematisieren zu können, wurde erneut mit dem drohenden Vorwurf zum Schweigen gebracht, er versuche die NS-Verbrechen aufzurechnen und zu relativieren. Wie in der DDR war der 8. Mai mittlerweile auch in der Bundesrepublik als „Tag der Befreiung“ anerkannt, und der stets lustige Gregor Gysi verkündete unter allgemeinem Beifall, die DDR hätte ja bloß Akten-, aber keine Leichenberge hinterlassen.
Und vor allem wurden die SED-Nachfolger als geläuterte Demokraten und Bündnispartner im „Kampf gegen Rechts“ benötigt. Und was ist es anderes als erlebte Gewalt, wenn dem kleinen mecklenburgischen Dorf Upahl südwestlich von Wismar gegen seinen bekundeten Willen ein Migrantencamp aufgenötigt wird? Kommunen im Westen machen übrigens dieselbe Erfahrung.
Während Urlauber aus dem fernen Bayern und dem Schwarzwald die lange Anreise zur schönen Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern auf sich nehmen, scheut Anne Rabe das heimische „Meckpomm“, weil sie sich dort „unwohl“ fühlt. Zu viele Deutschland-Fahnen, zu viele Nazi-Tattoos und zu viel Anti-Polen-Haß, faßt sie ihre Eindrücke vom Kurztrip auf die Insel Usedom zusammen. Usedom-Urlauber wissen: Das ist paranoid!
Das Interesse an ihrem Buch erklärt sie so: „Auch Westdeutsche wollen ergründen, warum es in Ostdeutschland mehr Rechtsextremismus gibt.“ Der „Rechtsextremismus“ ist ein Kampfbegriff, der benutzt wird, um Kritik am Zustand von Staat und Gesellschaft zu pathologisieren und zu kriminalisieren. Rabe positioniert sich als Zoologin, die den Tierparkbesuchern das bizarre Verhalten der Ostprimaten erklärt. Das Überlegenheitsgefühl, das die Autorin formuliert und bei einem bestimmten Publikum bedient, ist nichts anderes als die Unmündigkeit vor den Narrativen der Macht. Im Kern geht es gar nicht mehr um Ost oder West. Die bayerischen und hessischen Landtagswahlen Anfang Oktober haben gezeigt, daß auch die Wähler im Westen sich zunehmend aus dem Bannkreis der selbstzerstörerischen Erzählungen zu befreien versuchen.
Die Entwicklung hat im Osten begonnen und ist hier am weitesten fortgeschritten. Deshalb werden gebürtige „Ossis“ mobilisiert, um die brüchig gewordenen Narrative zu befestigen und die Kritik daran zu delegitimieren. Benötigt werden frische Kräfte. Ines Geipel hat es mit ihrer Kritik so sehr übertrieben, daß keiner sie mehr ernst nimmt. Der Lyriker und Pegida-Verächter Durs Grünbein ist in der Pose des demokratiepolitischen Großdenkers überfordert und kaum vermittelbar. Der Autor Ingo Schulze ist näher an der Wirklichkeit, doch auch er mochte nicht darauf verzichten, im Schlußteil seines Vor- und Nachwende-Romans „Die rechtschaffenen Mörder“ das Lied vom Neofaschismus (Ost) anzustimmen. Was bei Schulze klischeehaft bis zur Peinlichkeit ist, soll durch Rabes und Rietzschels vordergründige Authentizität beglaubigt sein. Der Kulturbetrieb kann keine Leerstellen zulassen, die von unkalkulierbaren Gegenentwürfen gefüllt werden.
Aus diesem Grund hat er Uwe Tellkamp zwar noch nicht als Romanautor, doch als öffentliche Figur zur persona non grata erklärt. Über den Schriftsteller Jörg Bernig, der 2016 in seiner hochreflexiven „Kamenzer Rede“ 2016 eine „Lage (beschrieb), in der die Regierung und auch weite Teile der Medienwelt gegen das Volk regieren“, wurde eine mediale Ächtung verhängt. Sein jüngster, surreal-visionärer Roman „Eschenhaus“ (JF 40/23) wird komplett ignoriert. Auch der Hallenser Psychoanalytiker Joachim Maaz, dessen Buch „Der Gefühlsstau“ ein unübertroffener Klassiker über die DDR- und Einheitserfahrung ist, wird als unsicherer Kantonist in die Ecke gestellt, weil er – wie die Initiative „Halle gegen Rechts – Bündnis für Zivilcourage“ vermeldete – „die Bundesrepublik mit der DDR in ihrer Endphase (gleichsetzt)“. Dieses Bündnis wurde 2017 als „Botschafter für Demokratie und Toleranz“ durch das von den Bundesministerien des Inneren und der Justiz getragene „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet.
Es sind kunst- und geistesferne Kalkulationen, denen der Kultur- und Literaturbetrieb unterliegt. Die aktuell hofierten Ost-Autoren Anne Rabe und Lukas Rietzschel sind als Figuren in einem Spiel gefragt, das sie gar nicht überschauen.
Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen. Roman. Ullstein, Berlin 2018, gebunden, 320 Seiten, 20 Euro
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2023, gebunden, 384 Seiten, 24 Euro